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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Al Shaw
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Beine mit zierlichen Hufen daran gehabt.
    Sie schrie auf, als sie ihn entdeckte, und der Laut ließ seinen Finger über dem Abzug verharren und sämtliche Farbe aus seinem Gesicht weichen.
    »Bitte!«, rief sie. »Bitte nicht! Nicht!«
    Als ihm klar wurde, dass es sein Gewehr war, vor dem sie Angst hatte, und sie seine Absichten ganz offensichtlich falsch gedeutet hatte, ließ er die Waffe fallen und stand langsam und mit erhobenen Händen auf. Er war kein Mann großer Worte, sondern eher ein Mann der Tat. Viele Leute hielten ihn für einen Schwachkopf, wie auch schon seinen Großvater und jeden Fossiter vor ihm, doch Daniel hatte den Verstand seines Vaters, des Pfarrers Fossiter, geerbt, genauso wie viele seiner Überzeugungen. Und genau diese Überzeugungen waren es, die ihm manchmal die Zunge an den Gaumen zu kleben schienen. Wenn er sie in Worte fassen wollte, lagen sie so dick und aromatisch in seinem Mund, dass es ihm schwerfiel, sie zu Lauten zu formen, so als versuchte er, mit einem Mund voller Honig zu sprechen.
    Nachdem er eine Weile hilflos vor sich hin gestammelt hatte, gelang es Daniel, ihr den Zweck seines Hierseins zu erklären. »Das Gewehr ist nur für die Ziegen, Ma’am.« Er deutete auf sich selbst. »Ich bin auf Ziegenjagd.«
    Sie lachte. So leicht und unbeschwert, dass auch er den Mut zum Lächeln und schließlich zum Lachen fand. Wenn Daniel lachte, was selten genug vorkam, ließ ein wummerndes Dröhnen seine Schultern erzittern, bog seine Wirbelsäule zurück und zwang seine bärtigen Kiefer auseinander, um einen tiefen, bassartigen Laut freizulassen, wie das Grollen einer Lawine, das in einer tiefen Felsspalte widerhallte. Ein paar Minuten lang standen sie einfach bloß da und lachten miteinander, ein Klang, den er sich noch Jahre später wieder und wieder ins Gedächtnis rufen würde.
    Sie wurden Freunde. Recht ungewöhnliche Freunde, wie eines Tages jemand in der Kirche anmerkte. Denn Betty passte nicht so recht nach Thunderstown, während Daniel wie mit der Stadt verwachsen schien. Betty bezeichnete sie als Provinznest, so abgeschieden, dass sie selber nicht verstehe, warum sie nicht einfach in die Metropole zurückkehre, aus der sie gekommen sei. Daniel hingegen war ein solcher Landmensch, dass ihn bisweilen selbst die Größe von Thunderstown einschüchterte. Und doch war es genau dieses Gefühl des Nicht-Dazugehörens, das sie einte. Zwei Menschen, die sich an jedem Ort gleichermaßen verloren fühlten.
    Daniel wurde zu Bettys Vertrautem. Er war immer da und lauschte ihr in tiefem Schweigen, wenn sie ihm von den Dingen erzählte, die sie Umtrieben. Sie wolle ein Kind, gestand sie ihm und sagte es gleich noch einmal. Sie wolle ein Kind ein Kind ein Kind. Einen Menschen, den sie aufziehen könne, damit er dazugehöre, in diese Welt, und ein erfülltes Leben führen könne. Woraufhin Daniel sich am Kopf kratzte und ihr zu erklären versuchte, er wünschte, sie würde nicht immer so reden, so als sei sie eine Art Mängelexemplar. Es machte ihm Angst, wenn sie solche Dinge sagte, weil es immer so klang, als wünschte sie sich nichts sehnlicher, als sich selbst zu ersetzen. Er konnte ihr nie ganz deutlich machen, wie sehr ihn diese Vorstellung belastete, denn durch die Verzögerung zwischen seinem Denken und Sprechen war der passende Zeitpunkt jedes Mal verstrichen, bevor er den Gedanken in Worte fassen konnte. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als ihr zuzuhören, erstaunt über das Mitgefühl, das er für sie aufbrachte, als sie ihm von ihren Versuchen, schwanger zu werden, erzählte und auf wie viele Arten ihr Körper und die Medizin sie kläglich im Stich gelassen hatten.
    Betty wirkte so zerbrechlich wie ein Vogelgerippe, als sie ihm von der endgültigen Diagnose der Ärzte berichtete. Unfruchtbar. Sie spie das Wort aus wie einen Mundvoll Blut, und während er beobachtete, wie sie unter heftigen Schluchzern erzitterte wie eine Marionette, begriff er schließlich, dass es für sie weniger schlimm gewesen wäre, eine ihrer Gliedmaßen zu verlieren, ein Auge oder alle ihre Zähne auf einmal, als diese eine Sache entbehren zu müssen. Dann trat sie in Daniels Arme, langsam, als balancierte sie an der Kante eines Abgrunds, und als er sie an sich zog, spürte er, dass er sie kein bisschen fester drücken durfte, um sie nicht zu Salz zu zermahlen.
    Nachdem sie ihm all das gestanden hatte, stieg er auf das Devil’s Diadem. Nur sein Gewehr und seine Gedanken leisteten ihm Gesellschaft. Es war

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