Der Mann, der den Regen träumt
näherte sie sich den Vorhängen. Als sie sie langsam aufzog, zitterten ihre Hände so stark, dass der Stoff in ihren Fingern flatterte.
Der Hund war nicht mehr da.
Mit einem erleichterten Seufzer eilte Elsa ins Badezimmer und gönnte sich eine lange Dusche. Dann zog sie sich an und putzte sich die Zähne. Zahncreme rann ihr übers Kinn und tropfte ins Waschbecken. Sie knöpfte ihre Jacke zu und vergewisserte sich noch einmal, dass sie ihre Schlüssel eingesteckt hatte. Dann sah sie auf die Uhr. Sie versuchte, nicht mehr an den Hund zu denken, genauso wie sie versuchte, nicht mehr an den Mann zu denken, dem sie am Tag zuvor begegnet war. Nachdem sie aus den Bergen zurück gewesen war, hatte sie jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, vor sich gesehen, wie er sich zu einer Wolke auflöste. Sie hatte nicht allein sein wollen und deshalb Kenneth überredet, ein Glas Wein mit ihr zu trinken.
Heute war ihr erster Arbeitstag in ihrem neuen Job und sie musste sich zusammenreißen. Sie hatte eine Teilzeitstelle als Aushilfe im Büro der Stadtverwaltung angenommen. Es war ein ziemlicher Rückschritt von ihrem vorherigen Job in New York, wo sie für das Wochenendmagazin einer Zeitung Kochrezepte, Modetipps und wahre Geschichten aus dem Leben der Leser zusammengestellt hatte. Eigentlich war es mehr um das Basteln von Collagen als um wirklichen Journalismus gegangen, aber genau das hatte sie an ihrer Arbeit geliebt: Die Seiten, die sie erstellte, spiegelten die ganze Vielfalt Amerikas wider und das hatte sie immer zu schätzen gewusst. Allerdings nur, solange sie sich ihrer selbst sicher gewesen war. Von dem Tag an, als die Risse sich auszubreiten begannen, war jede Stunde an ihrem Schreibtisch zur Tortur geworden. Bei jeder Geschichte, jedem Schnipsel, jedem Horoskop oder Silbenrätsel fragte sie sich, wer sie eigentlich war, bis sie unter dem Gewicht all der Menschen, die sie hätte sein können, zu ersticken drohte. Schließlich, an einem Montagnachmittag im Sommer, brach sie weinend in ihrem Büro zusammen. Danach fiel es ihr sogar schwer, die letzten Wochen bis zum Ende ihrer Kündigungsfrist durchzuhalten.
Dieser Job nun, den sie mit Kenneths Hilfe gefunden hatte, war genau das Richtige für sie. Ein Job, an den sie nach siebzehn Uhr abends keinen Gedanken mehr verschwenden musste. Es war nur ein kurzer Fußweg bis zu dem Bürogebäude am Ende einer staubigen Straße westlich der Sankt-Erasmus-Kirche. Dort erhob es sich in einem mächtigen Berg goldbrauner Steine, aus deren Ritzen trockenes Gras wucherte wie Bartstoppeln, all seine maroden Seitenflügel und Anbauten unter einem Uhrenturm vereint. Die Zeiger der Uhr jedoch schienen schon vor langer Zeit stehen geblieben zu sein. Elsa legte den Kopf in den Nacken, schirmte ihre Augen vor der Sonne ab und erkannte undeutlich auf jeder Seite des Zifferblatts eine hölzerne Figur, die durch eine Art Schiene mit dem Uhrwerk verbunden waren. Die eine Figur, ein Mann mit struppigem Bart und einem breitkrempigen Hut auf dem Kopf, hielt eine Spitzhacke in der einen Hand und in der anderen eine Glocke, die er durch die Luft zu schwenken schien. Die zweite Figur war schwarz gekleidet und stützte sich auf eine Sense.
Lily, Elsas neue Vorgesetzte, holte sie in einer Empfangshalle ab, deren Wände mit dunklem Holz vertäfelt und mit unzähligen Ziegenkopftrophäen geschmückt waren. Lily war neunzehn Jahre alt und ihr Unterkiefer bewegte sich beim Reden, als bestünde alles, was sie sagte, aus Kaugummi. Sie führte Elsa eine hölzerne Treppe hinauf, auf der ihre Schritte ein hohles Echo erzeugten, und in ein Büro, wo sie ihr einen kleinen Schreibtisch zuwies.
Elsa verbrachte den Großteil des Tages an einem uralten Fotokopierer und die Stunden krochen so langsam dahin, als richteten sie sich nach der kaputten Turmuhr.
»Also, was um alles in der Welt«, fragte Lily, als es endlich Zeit für die Mittagspause war, »hat dich dazu getrieben, von New York hierher zu ziehen?«
Aus Lilys Mund klang das so lächerlich, dass Elsa zögerte. Kenneth hatte ihre Entscheidung beinahe ehrfurchtsvoll akzeptiert, umso erstaunter war sie nun, dass jemand anderes sie hinterfragte. Doch in diesem heruntergekommenen Büro erkannte sie selbst, wie albern sie klang.
»Ich«, begann sie, »ich …« Sie würde den Teufel tun und sich jetzt selbst herabsetzen; sollte Lily sie ruhig für verrückt halten, wenn sie wollte. »Ich bin hergezogen, weil ich mal den Kopf freibekommen wollte. In New York
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