Der Mann, der den Regen träumt
achtunddreißig Ziegen geschossen, sechzehn sind mir in die Falle gegangen und vier habe ich zur Fleisch- und Lederproduktion getötet.«
Sidney verdrehte die Augen. »Und was ist so schwierig daran, das kurz zu Papier zu bringen?«
»Nichts, es ist nur unnötig. Die Leute in der Stadt wissen, dass ich meine Arbeit mache.«
»Das hat ja auch niemand infrage gestellt.«
Mole schnaubte und Daniel konnte ihr nur zustimmen.
»Ich möchte doch nur ein paar Dinge verbessern«, fügte Sidney vorsichtig hinzu. »Wie kann ich Ihnen das am besten erklären? Vielleicht, indem ich Sie frage: Wann sind Sie zum letzten Mal aus Thunderstown rausgekommen und haben gesehen, wie die Welt anderswo funktioniert?«
Daniel zuckte mit den Schultern. »Einmal. Vor dreißig, fünfunddreißig Jahren. Mehr brauchte ich von der Welt nicht zu sehen.«
»Tja … seitdem hat sie sich aber ziemlich verändert. Sie ist zusammengewachsen. Und diese Entwicklung wird früher oder später auch Thunderstown erreichen.«
Daniel dachte an die Amerikanerin, die ihn auf dem Kirchplatz zur Rede gestellt hatte.
»Thunderstown«, erklärte Sidney, »wird sich verändern. Traditionen werden verschwinden. Sie, zum Beispiel, haben ja noch nicht mal einen Lehrling.«
»Ich habe keinen Sohn.«
»Aber Sie müssen doch darüber nachgedacht haben, wer Ihre Arbeit fortführen soll, wenn Sie einmal nicht mehr da sind.«
Darüber hatte Daniel tatsächlich weniger nachgedacht als gut gewesen wäre. Er konnte sich Thunderstown nicht ohne einen Fossiter vorstellen. Seine Familie hatte diese Arbeit verrichtet, seit die ersten Grundsteine der Stadt gelegt worden waren, und die Vorstellung, dass womöglich er derjenige sein würde, der dieser Tradition ein Ende setzte, erschien ihm völlig undenkbar.
»Ob es Ihnen nun gefällt oder nicht«, sagte Sidney Moses, »wir nähern uns einem Punkt, an dem wir alte Gewohnheiten hinterfragen müssen. Darum reite ich auch so auf Berichten und Zeitplänen herum, Mr Fossiter. Nicht weil ich an Ihrem Pflichtbewusstsein zweifle, sondern weil ich mehr daraus machen will. Warum nutzen wir diese Phase des Übergangs nicht zu unserem Vorteil? Was würden Sie davon halten, wenn Sie die großartige Arbeit, die Ihre Familie für diese Stadt geleistet hat, zu einem würdigen Abschluss bringen könnten?« Er gestikulierte in Richtung der finsteren Gesichter auf den Ölgemälden. »Denken Sie doch nur daran, wie stolz das Ihre Vorfahren machen würde.«
Daniel schüttelte den Kopf. Er wusste, worauf das alles hinauslief. Früher oder später kam Sidney jedes Mal darauf zu sprechen.
Er blickte auf Mole hinunter, die ins Leere starrte, und wünschte, sie wäre noch jung genug, um zu knurren und zu schnappen. Denn wenn Sidney anfing, von der Zukunft zu reden, redete er sich geradezu in Rage. Er ging Daniel immer auf die Nerven, in diesen Momenten aber wurde er absolut unerträglich.
»Old Man Thunder«, sagte Sidney, die Stimme beinahe zu einem Flüstern gesenkt. »Der große Fang. Der all Ihren Vorvätern entwischt ist.«
»Old Man Thunder ist nur ein Märchen.«
»Ist er das wirklich? Gerade letzte Woche hat mir jemand erzählt, er hätte oben auf dem Drum Head einen kahlköpfigen Mann herumstrolchen sehen.«
Innerlich verfluchte Daniel Finn dafür, dass er so unvorsichtig gewesen war. Äußerlich aber gab er sich so gleichgültig, wie er nur konnte. »Keiner von uns wird jünger, Mr Moses, und die Hälfte der Männer aus Thunderstown trauern ihrem Haar hinterher. Wahrscheinlich war das einfach bloß Abe Cosser auf der Suche nach einem ausgebüxten Schaf.«
»Aber Cosser war derjenige, der ihn gesehen hat.«
Daniel zuckte mit den Schultern. »Wenn es ihn gäbe, hätte einer meiner Vorväter ihn erwischt. Aber keiner von ihnen hat ihn je auch nur gesehen.«
»Aber was ist, wenn Ihre Vorväter ihn nur deshalb nicht erwischt haben, weil sie nicht die Ausrüstung dafür hatten? Wenn wir uns gut organisieren, Mr Fossiter, und die neuesten Technologien nutzen, können wir ihn ganz sicher aufspüren. Und dann hätte die Stadt endlich ihre Ruhe vor dem Wetter.«
Daniel starrte quer durch den Raum auf das Porträt seines Großvaters. Es war gemalt worden, bevor sich sein Haar weiß verfärbt hatte und seine Haut sich über den Knochen zu runzeln begonnen hatte, und schien das exakte Ebenbild seines Enkelsohns zu zeigen. Genau wie jeder andere der Männer, deren finstere Gesichter die Flurwände zierten. Daniel dachte daran, wie sein
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