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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Al Shaw
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Großvater eines Tages wehmütig eingeräumt hatte, dass Old Man Thunder nicht existiere, so wie es jeder einzelne Fossiter vor ihm irgendwann getan hatte, nachdem er voller Hoffnung, aber schließlich doch erfolglos, nach ihm gesucht hatte.
    Old Man Thunder, so hieß es in der Legende, war eine Gewitterwolke in Gestalt eines Mannes. Er war der Herr über die wilden Hunde, der Reiter des Wasserpferdes, der Hüter der Bergziegen und noch viel mehr. Es hieß, der kahlköpfige, runzelige Gesell habe einmal an jenem Ort gelebt, an dem nun die Sankt-Erasmus-Kirche stand, doch die ersten Siedler von Thunderstown vertrieben ihn in die Berge. Dort streifte er angeblich noch immer umher und hetzte das Wetter gegen die Bewohner der Stadt auf, um sein Land von ihnen zurückzufordern.
    Erst wenn ein Jäger Old Man Thunder mit einer Kugel zur Strecke brachte, so erzählte man sich, würde das Wetter aufhören, die Gestalt teuflischer Bestien anzunehmen, und die Stadt verschonen. Es war der Traum eines jeden jungen Fossiters, dieser Jäger zu sein, bis sie alle eines Tages im Alter ernüchtert erklärten, die Legende um Old Man Thunder sei nichts als ein Märchen.
    Anders als der Rest seiner Familie hatte Daniel schon als Kind nicht an die Existenz von Old Man Thunder geglaubt. Die Einwände seines Großvaters waren ihm logisch erschienen und auch in den Bergen hatte er niemals irgendetwas gesehen, was ihn vom Gegenteil überzeugt hätte. Erst als Finn auf die Welt gekommen war, keimte die Erinnerung an die Legende erneut in seinen Gedanken auf. In den ersten Monaten hatte Daniel besorgt dabei zugesehen, wie Betty dieses verhutzelte, schreiende Geschöpf bemutterte, und ihn hatte mehr und mehr das Gefühl beschlichen, dass es dem wütenden, kahlköpfigen Teufel aus der Legende sehr ähnlich war.
    Offenbar war es ihm nicht besonders gut gelungen, seine Ängste zu verbergen, denn eines Abends hatte Betty sich mit ihm hingesetzt, seine Hand genommen und gesagt: »Nichts auf der Welt ist je so, wie es scheint.« Diese Worte hatten sich wie ein Anker in seine Gedanken gegraben und er hatte Old Man Thunder abermals daraus verbannt. Und nun stand Sidney Moses vor ihm und versuchte, ihn wieder hervorzuzerren.
    »Nein«, entgegnete Daniel. »Die Suche nach ihm ist Zeitverschwendung.«
    Sidney hatte ihn die ganze Zeit aufmerksam beobachtet. Einen Moment lang machte er ein Gesicht, als sei sein Mund voller Gift, dann aber rang er sich ein Lächeln ab und legte behutsam einen Stapel Papiere auf den großen Tisch in der Halle. »Das sehe ich anders und ich hoffe, dass ich Sie bald ebenfalls davon überzeugen kann. Betrachten Sie diese Dokumente hier als reinen Gefallen. Um Ihnen bei Ihren Berichten zu helfen.« Er setzte seinen Hut wieder auf und tippte sich an die Krempe. »Schönen Tag noch, Mr Fossiter.«
    Daniel nickte und Sidney ließ ihn allein. Er schloss die Tür hinter ihm und schob den Riegel vor, dann warf er einen flüchtigen Blick auf die Papiere, die Sidney auf den Tisch gelegt hatte. Darauf waren Reihen von Kästchen zu sehen, in denen Daniel Kreuzchen machen konnte. Eine Blanko-Übersicht über geschossene und gefangene Ziegen. Gesichtete Wildhunde. Angefallene Kosten. Daniel spuckte auf die Zettel und wünschte, Sidney würde mitsamt seinen Berichten auf Nimmerwiedersehen von einem Erdrutsch begraben.
    Nachdem er sich vergewissert hatte, dass es Mole gut ging, füllte Daniel einen Beutel mit Lebensmitteln und machte sich mit diesem und einem aufgerollten Stapel aus fünfzig Blatt weißem Papier zum Old Colp auf. Er nahm nicht den direkten Weg von Thunderstown aus, sondern entschied sich für den südlichen Aufstieg über den Merrow Wold. Erst als er die Stadt ein gutes Stück hinter sich gelassen hatte, wandte er sich nach Nordwesten und erklomm auf diesem Umweg die Hänge des Old Colp. Das war seine gewohnte Route, wenn er Finn besuchen ging, denn er wollte nicht, dass ein Mann wie Sidney Moses herausfand, wohin er ging. Wenn Sidney Finn jemals entdecken sollte … Tja, er konnte sich ausmalen, wie das ausgehen würde.
    Als Daniel schließlich die Kate erreichte, malten Sonne und Wolkenbänder Schattenstreifen auf die Erde und den Felsvorsprung, an den sich das Häuschen schmiegte. Im Gras zirpten Grillen, und als er an die Tür klopfte, flatterte ein gelber Vogel aus der Regenrinne und sauste trudelnd davon.
    Insgeheim hoffte er, dass Finn nicht zu Hause war. Dann wäre er seiner unangenehmen Pflicht ein weiteres Mal

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