Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Al Shaw
Vom Netzwerk:
die Augen. »Was war das denn gerade?«
    »Da ist es noch mal! Da drüben!«
    Finn zeigte auf eine Stelle auf dem Waldboden, wo das Laub heller zu leuchten schien als in seiner Umgebung. Es wirkte, als wäre dort ein glühendes Stück Holz zu Boden gefallen und hätte das Laub entfacht. Während Elsa zusah, wurde das Leuchten intensiver. Es formte sich zu einer winzigen Kugel aus Licht, die die Wurzeln und Zweige ringsum zum Strahlen brachte und sich als kleiner schwarzer Punkt in Elsas Netzhaut brannte. Die Kugel begann zu flirren und sich zu verzerren und im nächsten Augenblick sahen die Blätter aus wie flammend gelbe Federn und das Zwitschern eines Vogels ertönte.
    Das Licht erhob sich mit einem Zischen wie von einer Wunderkerze aus dem Laub. Dann schoss es so dicht an Elsas Ohr vorbei, dass sie einen heißen Luftzug spürte, und die Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf. Das Leuchten wurde im Flug etwas schwächer, bis Elsa schließlich klar und deutlich Flügel, einen Schnabel und Schwanzfedern erkennen konnte, mit denen der Vogel seinen Flug steuerte. Er flatterte auf einen Zweig, wo er sich kurz aufplusterte und dann eine Probe seiner Sangeskünste folgen ließ.
    »Wa … was ist da gerade passiert?«
    »Ein Sonnenstrahl«, erwidere Finn, »ist zum Leben erwacht.«
    Sie hatte so viele Fragen, dass sie ihm keine einzige stellen konnte.
    Er grinste von einem Ohr zum anderen. »Sollen wir einen einfangen?«
    »Was?«
    »Die sind ganz harmlos. Na, komm.« Mit diesen Worten griff er nach den unteren Ästen des nächsten Baumes und schwang sich den Stamm hinauf.
    Elsa war überrascht, dass ein so großer Mann sich so mühelos aufwärtsbewegen konnte.
    Er grinste von einem der höheren Äste auf sie herunter und fragte: »Worauf wartest du noch?«
    Sie schüttelte den Kopf, noch immer völlig benommen von dem, was sie gerade gesehen hatte.
    »Auf dem Boden werden wir keinen fangen, Elsa. Sie sitzen lieber in den Zweigen.«
    »Ich … ich …«
    Genauso elegant, wie er dort hinaufgelangt war, ließ Finn sich wieder zu ihr heruntergleiten. »Ich helfe dir beim Klettern. Hier, halt dich an diesem Ast fest.«
    Elsa griff nach der warmen Borke und sah durch das Blattwerk zu einem Trio von Kanarienvögeln hinauf, die dicht zusammengedrängt auf einem Ast hockten, mit schräg gelegten Köpfen zu ihr hinunterblickten und vergnügt piepsten, als böte sie den lächerlichsten Anblick der Welt.
    Ohne wirklich zu wissen, was sie tat, zog sie sich an dem Ast hoch, bis sie den Boden unter den Füßen verlor, und stemmte sie Halt suchend gegen den Stamm. Sie war überrascht, wie leicht sie sich fühlte, kurz darauf aber wurde ihr bewusst, dass Finn sie von unten stützte, um ihr mehr Schwung zu geben. Einen Moment lang wollte sie ihren Fuß einfach dort in seiner Hand lassen. Doch sie zog sich nach oben, bis sie auf einem Ast saß. Danach wurde das Klettern leichter.
    Finn schien den Stamm geradezu hinaufzuschweben. Er überholte Elsa und führte sie nach und nach immer höher, bis sie einander auf zwei der höchsten Arme des Baumes gegenüberhockten.
    »Jetzt müssen wir ganz leise sein, damit sich die Vögel wieder beruhigen.«
    Sie nickte und so saßen sie schweigend da, während die Blätter ringsum sich sanft in der an- und abschwellenden Brise wiegten. Elsa wusste, dass Finn sie beobachtete, lächelnd, doch sie erwiderte seinen Blick nicht. Sie ging davon aus, dass dies alles für ihn nichts Besonderes war, für sie aber fühlte es sich an, als teilten sie einen bedeutsamen Augenblick miteinander. Sie hatte immer geglaubt, dass man, um sich einem anderen Menschen wirklich nahe zu fühlen, sehr viel Zeit mit ihm verbringen musste. Und doch saßen sie nun hier, zwei Fremde, und Elsa verspürte eine Verbundenheit zu ihm, die so greifbar schien wie die zwischen dem Ast, auf dem sie hockte, und seinem Stamm.
    »Und jetzt«, flüsterte Finn, »streck deine Hände aus.«
    Sie gehorchte und fragte sich, ob er sie ergreifen würde. Stattdessen aber zog er ein Säckchen voller Samen aus seiner heilen Hosentasche und legte ein dickes Korn in ihre Handfläche. Dann warteten sie.
    Ein Kanarienvogel kam durch die Baumkronen gehuscht, er hüpfte und flatterte von Ast zu Ast und näherte sich ihnen, Stück für Stück. Eine Weile blieb er in den Zweigen über Finn sitzen, neigte den Kopf nach links, dann nach rechts, und fixierte Elsa mit seinem Blick. Sie lächelte ihn an, für den Fall, dass das etwas helfen würde.
    Der Vogel

Weitere Kostenlose Bücher