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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Al Shaw
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Papiergans behutsam zurück auf den Tisch. »Würdest du sie mir mal zeigen?«
    »Äh, ich glaube, das geht nicht.«
    »Warum nicht? Willst du nicht, dass ich sie sehe?«
    »Doch, sogar sehr gern, es ist nur …«
    »Worauf warten wir dann noch?«
    Einen Moment später zuckte Finn mit den Schultern und stand auf.
    * * *
    Gemeinsam traten sie nach draußen und Elsa folgte ihm den Berg hinauf. Finn hatte beim Laufen eine derartige Körperspannung, dass es beinahe wirkte, als würde er schweben. Sie stapfte neben ihm her und musste immer wieder kurz anhalten, um Atem zu schöpfen. Die andauernde Hitze hatte die Felsbrocken mit einer Staubschicht über zogen und das Gras derartig ausgetrocknet, dass ihre Schuhe Spuren hineindrückten. Im Osten schlossen sich ein paar Wolken zu einem vagen Versprechen von dringend benötigtem Regen zusammen.
    Sie liefen in behaglichem Schweigen nebeneinander her, ein Schweigen, von dem Elsa immer angenommen hatte, dass Menschen Jahre, und nicht Tage, brauchten, um es miteinander teilen zu können. Und mit einem Mal, ganz von sich aus, fing Finn an zu erzählen, wie im vergangenen Sommer eine Feldmaus ihr Nest gleich vor seiner Kate gebaut hatte und es ihm gelungen war, sie mit einer Spur aus weißer Schokolade hereinzulocken. Als sie schließlich im Haus gewesen war, hatte er sich neben sie gekniet und eine Papiermaus nach der anderen gefaltet. Er beschrieb, wie gut ihm der Schwanz gelungen war, den er aus einem langen Stück Papier gedreht hatte, anstatt ihn zu falten. Dann, als die Geschichte zu Ende war, verfiel Finn wieder in Schweigen und zu ihrer großen Freude stellte Elsa fest, dass sie ihrem natürlichen Drang, es mit Worten zu füllen, widerstehen konnte.
    Sie gelangten an den Rand eines Wäldchens. Jemand hatte einen kleinen Graben um die knorrigen Bäume ausgehoben, der wiederum von einem Stacheldrahtzaun umgeben war. Von den scharfen Spitzen hingen Fellbüschel.
    »Da scheint der Zugang wohl verboten zu sein«, meinte Elsa.
    »Nein«, entgegnete Finn. »Das da sind Daniels Absperrungen. Um die Ziegen draußen zu halten, nicht uns. Die Ziegen würden gerade mal einen Tag brauchen, um diese Bäume zu verschlingen.«
    Er hob ein Brett vom Boden auf und lehnte es an den Zaun, um einen provisorischen Überstieg zu schaffen. Geschickt balancierte er hinauf, sprang auf der anderen Seite hinunter und drehte sich dann um, um Elsa zu helfen. Sie genoss das weiche Gefühl seiner Finger, als er ihre Hand nahm und sie stützte, während sie über den Zaun kletterte.
    Unter den Baumkronen des kleinen Wäldchens wurde die Welt schlagartig stiller und kühler. Der Sommer hatte die Blätter zu einem frühherbstlichen Braun ausgedörrt, doch es hingen noch genug an den Ästen, um ein geschecktes Muster auf den Boden zu malen. Sie tauchten ein in dieses Gewimmel aus Licht und Schatten und blieben schließlich stehen.
    »Jetzt lausch einfach mal«, wies Finn Elsa an und hielt sich einen Finger an die Lippen.
    Sie hörte Vogelgezwitscher, und als sie den Blick durch das Geflecht von Zweigen schweifen ließ, sah sie an mehreren Stellen kleine gelbe Vögel in Dreier- oder Vierergrüppchen in den Bäumen hocken. Einer zischte tirilierend an ihr vorbei.
    »Kannst du sie sehen?«, flüsterte Finn.
    »Ja. Natürlich.«
    Er grinste. »Es sind Kanarienvögel. Ich habe Nistkästen für sie aufgehängt. Im Sommer gibt es hier oben in den Bergen Tausende von ihnen. Meine Mutter hat mir einmal eine Geschichte über sie erzählt. Sie sagte, dass an dem Tag, als die große Überflutung die Minen zerstört hat, in der Candle Street ein Händler Kanarienvögel verkaufte. Die Flutwelle hat seinen Stand umgerissen und die Käfige aufgebrochen. Etwa hundert Tiere sind entkommen, die dann hundert weitere ausbrüteten und immer so weiter. Von diesem Tag an hat es immer wilde Kanarienvögel in Thunderstown gegeben.«
    »Das ist eine schöne Geschichte.«
    »Aber sie ist nicht wahr, denn diese Vögel brüten nicht.«
    »Was soll das denn heißen? Natürlich brüten sie.«
    »Nein, tun sie nicht. Sieh mal, da drüben.«
    Sie folgte seinem deutenden Finger – und sah nichts.
    »Du bist zu langsam, Elsa. Warte … warte … Jetzt! Da!«
    Zuerst dachte sie, es wäre eine optische Täuschung. Ein Streich, den ihr das Licht zwischen den Blättern auf der Erde spielte. Dann aber schoss von einem hellen Sonnenfleck am Boden ein Kanarienvogel auf und gesellte sich zu seinen Gefährten im Astwerk des Wäldchens. Elsa rieb sich

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