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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Al Shaw
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breitete seine gelben Flügel aus und segelte zu ihr herunter, um sich auf ihrer Hand niederzulassen. Elsa spürte die Spitze seines Schnabels auf ihrer Haut, als er das Körnchen aufpickte.
    »Halt ihn fest«, wisperte Finn.
    Nervös – es kam ihr falsch vor, ein wildes Tier einzufangen – legte sie ihre freie Hand über den Kanarienvogel, bis er zwischen ihren Handflächen gefangen war. Er begann sofort, wild zu zappeln und Elsa schrie auf, als seine Flügel gegen ihre Finger schlugen. Doch sie hielt die Hände geschlossen und kurz darauf spürte sie, wie der Vogel sich veränderte. »Finn … irgendwas passiert da!«
    »Keine Angst. Er tut dir nichts.«
    Der Vogel hatte aufgehört, sich zu wehren. Er hockte still, nahezu schwerelos in Elsas Händen. Er fühlte sich immer wärmer an – es war nicht die Wärme, die sein kleines Herz und seine Muskeln verströmten, sondern die durchdringende Hitze eines Sommernachmittags. Bald glomm um ihre Hände ein schwaches Licht auf, das heller und heller wurde, bis goldene Strahlen aus den Ritzen zwischen ihren Fingern hervordrangen.
    Der Schreck schien einen Schalter in Elsa umzulegen und sie ließ den Kanarienvogel frei. Doch ihre Hände waren leer, der Vogel war verschwunden und das Licht, das sie gehalten hatte, löste sich wie schimmernder Dunst in Luft auf. Alles, was ihr blieb, war die Hitze in ihren Handflächen, als hätte sie diese an einem Lagerfeuer gewärmt.
    Finn lachte und klatschte in die Hände, doch Elsa brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. »Ich … ich …«, stotterte sie. »Ich habe ihn doch nicht umgebracht, oder?«
    »Nein, natürlich nicht. Man kann doch kein Sonnenlicht töten, oder? In ein paar Minuten ist er wieder da. Es sei denn, die Sonne hört auf zu scheinen.« Er begann, den Baum wieder hinunterzuklettern. Elsa blieb noch einen Moment sitzen, bevor sie ihm unsicher folgte.
    »Finn, ich … ich habe neulich Nacht einen Hund gesehen. Er hat mich zu einem Pfad geführt und dann war er plötzlich verschwunden. Es war, als hätte er sich in Luft aufgelöst, und eine Windbö ist an mir vorbeigepeitscht.«
    Finn nickte. »Wenn du weißt, worauf du achten musst, siehst du überall solche Dinge. Hier in den Bergen gibt es sie. Du könntest ein Pferd aus einem Fluss auftauchen sehen. Oder Schwalben, die einfach im Wind verschwinden. Manche dieser Dinge sind Erscheinungsformen des Wetters. Wenn wir bis Sonnenuntergang hierbleiben würden, könntest du sehen, wie sich die Kanarienvögel rot verfärben, und noch später, wenn es Nacht wird, verschwinden sie.«
    Sie dachte eine Weile darüber nach. »Und … was ist mit dir?«
    »Ich …« Finn zuckte zusammen. Er wirkte so bestürzt darüber, dass sie diese Verbindung zu ihm gezogen hatte, dass Elsa ihre Frage am liebsten zurückgenommen hätte.
    Nach einem Moment hakte sie vorsichtig nach. »Du hast selbst gesagt, dass du aus Wetter gemacht bist. Und ich habe gesehen, was an der Windmühle mit dir passiert ist.«
    »Ja«, erwiderte er.
    Die Kanarienvögel über ihnen zwitscherten und sangen. Sie wollte, so wurde es Elsa plötzlich mit der Wucht eines elektrischen Schlags bewusst, dass er genauso war wie die Vögel. Sie wollte, dass er selbst das Wetter war.
    »Du willst wissen, ob ich anders bin als die Hunde und die Kanarienvögel. Ich … ich fühle mich anders, auch wenn ich nicht sicher bin, ob das etwas zählt. Aber es gibt einen großen Unterschied: All diese Kreaturen sind aus dem Nichts entstanden, während ich geboren wurde und ganz normal aufgewachsen bin. Es gibt Fotos von meiner schwangeren Mutter und von mir als Baby und kleinem Jungen. Also muss ich ein Mensch sein.«
    »Natürlich«, entgegnete sie und versuchte, nicht zu enttäuscht zu klingen. »Ja, ich nehme an, das ist ein Unterschied.«
    »Aber … manchmal fühle ich mich nicht stofflich genug, um ein Mensch zu sein. Dann fühle ich mich zu leicht, als könnte mich der Wind jeden Moment davonwehen. Und ich, äh … ich …«
    »Du kannst mir vertrauen, Finn.«
    »Ich habe keinen Herzschlag.«
    »Aber … das ist unmöglich!«
    »Ist es das?«
    Ein Gefühl wie Schwindel überkam Elsa. »Keinen Herzschlag«, wiederholte sie und ertappte sich dabei, wie sie auf seine Brust starrte. »Was hält dich dann am Leben?«
    »Vielleicht der Donner.«
    Sie leckte sich über die Lippen. Sie hatte das Gefühl, am Rande eines Abgrunds zu stehen und sich nun entscheiden zu müssen, ob sie zurückweichen oder sich hinunterstürzen wollte.

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