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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Al Shaw
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»Kann man ihn hören?«
    »Ja. Manchmal.«
    Und weil sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte, beugte sie sich vor. »Ich will ihn hören.« Sie hielt den Atem an.
    Finn blickte sie an, als wäre sie verrückt geworden. »Ich will dir nicht schon wieder Angst einjagen.«
    »Diesmal bekomme ich keine Angst. Ganz sicher.«
    »Dann … okay.«
    Sie nickte, doch sie trat nicht näher auf ihn zu. Mit einem Mal wurde sie sich seiner Größe und seines massigen Körpers bewusst und schließlich ihres eigenen Körpers und des heißen Herzschlags, der durch ihre Adern pulsierte, des dünnen Schweißfilms in ihrem Kreuz und der Luft zwischen ihnen, die sich in ein unüberwindbares Hindernis verwandelt zu haben schien.
    »Jetzt gleich?«, fragte sie, um Zeit zu schinden.
    »Na ja, ja« ,erwiderte er. »Wann immer du willst.«
    Sie holte tief Luft und marschierte entschlossen auf ihn zu, dann neigte sie so abrupt den Kopf, dass sie Finn beinahe einen Stoß verpasst hätte.
    Seine Brust fühlte sich fest an unter ihrem Ohr. Sie spürte, wie er sich versteifte. Sie schloss die Augen und lauschte.
    Es war, als hielte sie sich das Haus einer Meeresschnecke ans Ohr: Unter Finns Brustbein erklang ein Geräusch wie von einem fernen Sturm. Das gleichmäßige Rauschen von Regen, das Pfeifen des Windes, die unverkennbare Bassnote des Donners und schließlich das peitschende Zischen eines Blitzes. Elsa zuckte nicht zurück. Sie war so versunken, wie sie es als kleines Mädchen gewesen war, wenn sie, Hände und Gesicht an die Fensterscheibe gepresst, zusah, wie schwarze Wolken einander über den Horizont jagten.
    »Elsa …«
    Seine Stimme holte sie in die Wirklichkeit zurück. Eine Wirklichkeit, in der ihre Sinne schärfer waren als seit langer Zeit. Sie hatte das Gefühl, soeben von einem langen, erfrischenden Spaziergang nach Hause zurückzukehren.
    »Elsa …«, wiederholte er.
    Sie richtete sich auf. »Danke«, sagte sie.
    Dann küsste sie ihn.
    Zuerst leistete er schwachen Widerstand, doch sie merkte, dass er sie nicht ernsthaft aufhalten wollte. Dann erwiderte er ihren Kuss und schlang sogar die Arme um sie, während sie die Hände über seine Schultern gleiten ließ und dachte: Vielleicht küsse ich einen Sturm. Vielleicht küsse ich den Donner.
    Finns Augen waren geschlossen, ihre offen. Dann, nach etwa einer Minute, öffnete auch er seine und sie blickte direkt in ihre sturmgepeitschten Tiefen. Elsa versank im unvollkommenen Rund seiner Pupillen, die wie das Zentrum eines Labyrinths waren, auf das sie seit langer Zeit zuirrte.

Es war Sonntagmorgen und Elsa lag im Bett und dachte an Finn. Sie hatte gehofft, ihn heute wiederzusehen, doch er hatte vorgeschlagen, bis Montag zu warten. In Thunderstown, so hatte er erklärt, war der Sonntag noch immer ein Tag der Ruhe und Besinnlichkeit, den man mit der Familie verbrachte. Oft tauchte an diesen Tagen Daniel Fossiter, von Schuldgefühlen getrieben, zu einer gemeinsamen Mahlzeit an der Kate auf, die sie dann wie immer in unbehaglichem Schweigen verbrachten. Finn hielt es für das Beste, wenn der Jäger sie, zumindest bis auf Weiteres, nicht zusammen sah.
    Elsa hatte nicht vor, sich von Daniel vorschreiben zu lassen, mit wem sie sich treffen durfte und mit wem nicht, in Zukunft aber könnten seine Einmischungen zu einem Problem werden und sie hoffte, Finn würde sich früher oder später darum kümmern. Fürs Erste aber war sie mit einem Kuss zufrieden.
    Ein Klopfen an der Tür. Sie gähnte und kletterte aus dem Bett. An der Tür rieb sie sich den Schlaf aus den Augen.
    Kenneth Olivier trug einen zerknitterten Anzug und an seinem Revers steckte eine frische gelbe Blume. Seine Krawatte war genauso scheußlich gemustert wie seine knallbunten Pullover. Elsa trug noch immer ihre Schlafshorts und ein T-Shirt und er schien peinlich berührt, sie so zu sehen.
    »Tut mir leid«, murmelte er und wich von der Tür zurück. »Ich dachte, du wärst schon fertig für die Kirche.«
    »Äh … nein. Ich bin nicht gläubig.«
    »Oh«, erwiderte er. »Oh, verstehe.« Er machte ein bestürztes Gesicht, nicht weil er sie verurteilte, sondern weil er ihr noch am Tag zuvor mit einer Begeisterung, die er sonst nur zeigte, wenn er über Kricket redete, erzählt hatte, dass er zum Leiter des Kirchenchors ernannt worden war und seine Schützlinge diesen Sonntag zum ersten Mal im Gottesdienst singen würden. Sie wünschte, sie hätte nichts gesagt.
    Kenneth errötete und entschuldigte sich abermals für die

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