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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Al Shaw
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verantwortlich, das in der Vergangenheit Teile der Stadt zerstört hat. Der Legende nach lebt er irgendwo oben in den Bergen. Er ist alt und kahlköpfig und böse, obwohl es heißt, dass das nicht immer so gewesen ist. Er soll einst ein Gewitter gewesen sein, das oben am Himmel so einsam war, dass es sich in einen Mann aus Fleisch und Blut verwandelte. Aber wenn der Mann sprach, kamen seine Worte als Blitze aus seinem Mund, die die Felder in Brand setzten. Und wenn er andere Menschen berühren wollte, wurden sie von einer Windbö fortgerissen. Da wurde er furchtbar traurig, weil er kein normaler Mensch sein konnte, und fing an zu weinen und seine Tränen wurden zu einer Flutwelle, die sich über die Stadt ergoss, das Vieh ertränkte und die Minen mit giftigem Wasser füllte.«
    Schweigend liefen sie eine Weile nebeneinander her. Kein Vogelgezwitscher oder Wind waren zu hören, bloß das Läuten der Kirchenglocke.
    »Glaubst du an diese Geschichte?«, fragte Elsa vorsichtig.
    »Oh, nein, nein. Aber ich kann diejenigen, die es tun, verstehen. Für manche Dinge brauchen die Leute einfach einen Sündenbock.«
    Die Corris Street mündete auf den Sankt-Erasmus-Platz und vor ihnen erhob sich die gigantische Kirche. Die Aussicht darauf, sie zu betreten, nicht um sich bloß ein bisschen umzusehen, sondern um mit den Gläubigen dort zu sein, verlieh dem Bau eine noch finsterere Aura als ohnehin schon. Sie hatte nichts von den modernen Kirchen an sich, die Elsa kannte, sondern wirkte wie ein Tempel aus lang vergangenen Zeiten.
    Sie schüttelte den Kopf, wie um ihre allzu regen Fantasien loszuwerden. Es war ein riesiger Haufen aus Ziegelsteinen und Mörtel, mehr nicht. In seinem Inneren würde sie nichts als Leere und alte, fromme Menschen vorfinden.
    Sie hatte recht und kostete einen Moment lang ihren Triumph aus, als Kenneth sie hineinführte, dann aber stellte Elsa enttäuscht fest, dass das Gebäude keinerlei Geheimnis barg, keine Seele, die wie ein Gespenst darin spürbar war. Die Kirche wirkte karg und öde mit ihren kahlen, weiß getünchten Wänden, wie ein kalter Steinsarg, der die Hitze des Tages draußen hielt. Eine verstimmte Orgel spielte, während die Gemeinde sich langsam einfand. Je nachdem, aus welchem Blickwinkel man es betrachtete, war der Gottesdienst entweder sehr gut oder furchtbar schlecht besucht: Jede einzelne der unbequemen Bänke war voll besetzt, allerdings gab es auch nur sehr wenige davon. Elsa vermutete, dass die meisten von ihnen wahrscheinlich zusammen mit den Statuen und Wasserspeiern verschwunden waren, und dem edlen Mahagoni nach zu urteilen, aus dem sie bestanden, waren sie vermutlich nach und nach verscherbelt worden. Rings um diese spärlichen Reihen von Gläubigen erstreckte sich ein Meer von grauen Bodenplatten, in die die Namen und Titel der Menschen eingemeißelt waren, die darunter begraben lagen. Moos wucherte aus den Rillen hervor und die Steine waren mit den Ausscheidungen jener geflügelten Gemeindemitglieder befleckt, die oben im Dachgebälk lebten.
    In der ersten Reihe sah Elsa Daniel Fossiter, den Kopf demütig gesenkt und in auffälligem Abstand zu seinen beiden Sitznachbarn.
    Kenneth setzte sich zu seinem Chor und Elsa fand einen freien Platz in einer der hinteren Reihen, so weit weg von Daniel wie nur möglich. Sie hatte kaum eine Minute dort gesessen, als eine zwergenhaft kleine Nonne mit einer riesigen Brille auf der Nase neben ihr Platz nahm.
    »Neu hier?«, fragte sie Elsa. Ihre betagte Stimme hatte einen verschmitzten Unterton.
    »Ziemlich, ja.«
    Die Nonne faltete die Hände in ihrem Schoß. Beim Sprechen blitzten ihre Zähne auf, die mit der Zeit so schmal und spitz geworden waren, dass die Lücken dazwischen riesig wirkten. »Ich bin alt hier«, sagte sie dann. Sie entfaltete ihre greisen Finger, wie um zu demonstrieren, dass sie nicht nur in dieser Kirche alt war, sondern auch draußen auf der Straße, im Hügelland und in den Bergen dahinter.
    »Dot«, stellte sie sich vor und kniff Elsa spaßhaft in den Arm.
    »Elsa.«
    »Und Sie wohnen bei Mr Olivier.«
    »Ja«, entgegnete Elsa, überrascht darüber, was die alte Frau alles wusste. »Bei Kenneth, genau.«
    Dot tippte sich mit einem gekrümmten Finger an die noch gekrümmtere Nase. »Kenneth hat gesagt, dass ich mich zu Ihnen setzen soll. Meinte, Sie würden wahrscheinlich irgendwo hinten sein. Also habe ich meine alten Knochen hierherbewegt. So weit weg von der Kanzel werde ich zwar nicht viel von der Predigt

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