Der Mann, der den Regen träumt
reden, bis sein Zuhörer schließlich einen Vorwand fand, um zu gehen. »Er ist eine Verbindung. Das Gewitter streckt einen elektrisch geladenen Fühler, der für das bloße Auge unsichtbar ist, nach dem Boden aus und der Boden macht dasselbe. Wie zwei Arme, die in der Dunkelheit versuchen, nacheinander zu greifen. Und dann, wenn sie sich gefunden haben, wird die Verbindung so stark, dass sie anfängt zu brennen, heißer als die Oberfläche der Sonne.«
Nicht lange nach Elsas Umzug nach New York war ihr Dad zum ersten Mal ins Gefängnis gekommen. Es war am Abend ihrer Einweihungsparty gewesen, als ihr Dad anrief, um ihr zu sagen, dass er mal wieder Ärger mit der Polizei hatte. Man hatte ihn zum wiederholten Mal beim Stehlen erwischt. Bisher war er immer mit Geldstrafen oder gemeinnütziger Arbeit davongekommen, diesmal aber hatte der Richter befunden, dass seine ständigen Gesetzesüberschreitungen härtere Maßnahmen erforderten.
Es war eine surreale Enthüllung gewesen. Elsa hatte gewusst, dass er seit Jahren pleite war, doch das wahre Ausmaß seiner Probleme hatte er sie nie auch nur ahnen lassen. Ihr Vater war eben ein waschechter Sturm-Junkie. Als Elsa klein gewesen war, hatte er in einer großen Wetterwarte in Norman gearbeitet, eines Tages aber war seinen Arbeitgebern aufgefallen, dass seine Krankmeldungen einem sonderbaren Muster folgten. Jedes Mal, wenn er erfuhr, dass sich vor der Küste ein großer Hurrikan bildete oder für die Prärie ein riesiger Tornado vorausgesagt wurde, machte er sich mit seinem Pick-up auf den Weg, um den Sturm zu jagen. Nachdem sie ihn gefeuert hatten, suchte er sich neue, schlechtere Jobs, an denen ihm so wenig lag, dass seine Fehlzeiten immer weiter anstiegen. Irgendwann hatte er gar kein Geld mehr und stahl eine Tüte Schokoriegel in einem Supermarkt.
Sie hatte bei seiner Anhörung dabei sein wollen. Für sie war die ganze Angelegenheit nicht mehr als eine Lappalie: Was war schon eine lächerliche Tüte Süßigkeiten gegen die Tatsache, dass er ihr immer ein wunderbarer Vater gewesen war? Aber er hatte sie über den Ort des Gerichtstermins angelogen und sie hatte erst im Nachhinein von seinen späteren, gravierenderen Verbrechen erfahren, die darin gipfelten, dass er einer alleinerziehenden dreifachen Mutter die Handtasche stahl.
Elsa war die Einzige, die ihn im Gefängnis besuchte. Ihre Mutter kam nicht, genauso wenig wie seine Seite der Familie und noch nicht einmal seine Sturmjäger-Freunde, die – das Gefühl hatte sie schon immer gehabt – nie wirklich mit ihm auf einer Wellenlänge gewesen waren. Sie waren nur auf den Nervenkitzel aus gewesen, während Elsas Vater ernstere Beweggründe für seine Jagd nach den Stürmen gehabt hatte. Sie waren eher spiritueller Natur. Er war der Hohepriester des Hurrikans, der aus der Liturgie der Blitze las, und an dieses Bild von ihm klammerte Elsa sich, obwohl sie genau wusste, dass es nur ein kleiner Teil dessen war, was ihren Vater ausmachte.
Bevor er ins Gefängnis musste, hatte Elsa noch gehofft, dass die Haftstrafe ihn zur Vernunft bringen würde. Doch als er bei ihrem ersten Besuch »Mich treibt nun mal das Wetter an« gemurmelt hatte, war das ein Hinweis darauf gewesen, dass er hinter Gittern zerbrechen würde.
Einmal, nach ein paar Gläschen Bourbon zu viel, hatte ihre Mutter gesagt, sein Gerede darüber, dass ihn das Wetter antreibe, sei der reinste Bluff. Er ziehe keineswegs seine Energie aus Stürmen und Tornados. Er habe sie aus der Gesellschaft seines einzigen Kindes gezogen und funktioniere nun einfach nicht mehr, weil Elsa ihm die funkelnden Lichter der Stadt vorgezogen hatte. Vielleicht hatte sie in ihrer Beschwipstheit ein bisschen übertrieben, aber Elsas Gedanken hatten trotzdem voller Entsetzen angefangen, sich zu überschlagen. Konnte es sein, dass sie ihren Vater zerstört hatte, indem sie, unvermeidlich, erwachsen geworden war? Einmal, irgendwann zwischen seinem ersten und zweiten Gefängnisaufenthalt, hatte sie versucht, ihn danach zu fragen, aber er hatte nur gereizt reagiert und nicht darauf geantwortet.
Angesichts dieser Erinnerungen musste Elsa sich ein paar Tränen aus den Augen wischen. Sie schniefte verdächtig, doch außer den gemurmelten Worten des Pfarrers war da nichts, was sie von ihren Gedanken hätte abbringen können, und die hatten nicht die Kraft dazu. Dann aber streckte Dot tröstend eine dürre Hand aus und drückte die ihre. Elsa atmete aus, schluckte ihre Tränen hinunter und riss
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