Der Mann, der den Regen träumt
mitbekommen, aber das ist vielleicht auch gar nicht so schlimm, oder?«
Elsa lachte, ein bisschen zu laut, und ihre Stimme hallte von der gewölbeartigen Decke wider. Als Antwort drang ein kurzes Flügelschlagen zu ihnen herunter.
»Sind Sie gut hergekommen?«, fragte Dot.
»Wir sind gelaufen. Kenneth wohnt ja nicht weit von hier.«
»Nein. Ob Sie gut nach Thunderstown gekommen sind.«
»Ach so«, antwortete Elsa geistesabwesend. »Ja. Der Flug war wirklich schön. Kennen Sie das, wenn die Wolken wie eine Landschaft aussehen und man sich am liebsten hineinstürzen möchte? Und wenn alle anderen ihre Nase in ein Buch stecken oder die Augen zu haben und man das Gefühl hat, die Einzige zu sein, die immer noch findet, dass Fliegen etwas Magisches an sich hat?«
»Schauen Sie mal«, sagte die Nonne, griff in ihre gestärkte graue Tracht und zog eine Geldbörse hervor. Nachdem sie eine Weile erfolglos mit ihren krummen Fingern darin herumgewühlt hatte, nahm sie schließlich eine von Elsas Händen, drehte sie mit der Handfläche nach oben und schüttete den Inhalt der Börse darauf aus. Zum Vorschein kamen eine frische rote Blüte, die wie eine Minitulpe aussah, ein großer gelber Knopf, ein Eckzahn und ein Foto von der Größe einer Kreditkarte. Letzteres hob Dot auf und zeigte es Elsa.
»Ich habe ja keinen Ehemann, dessen Foto ich mit mir herumtragen könnte«, erklärte sie grinsend, »es sei denn, natürlich, man zählt den lieben Gott selbst als solchen, aber der lässt sich ja nun mal nicht fotografieren. Und das hier ist fast genauso gut.«
Auf dem Foto war kein Gesicht zu sehen, sondern eine dunkle Wolkenmasse, hinter der die Sonne hervorschien, sodass die Ränder der Wolken von strahlendem Licht umrahmt waren.
»Wie ein Heiligenschein«, murmelte Elsa.
»Davon habe ich noch viele, viele mehr.« Dot begann, die Sachen zurück in ihre Tasche zu räumen. »Sie sollten mich mal besuchen kommen.«
Bevor Elsa antworten konnte, hörte die Orgel auf zu spielen und der Pfarrer erhob und räusperte sich. Er schien nur aus Wangen zu bestehen und hatte kein Haar auf seinem fleckigen Schädel bis auf ein Paar Augenbrauen, so dick und schwarz wie Rattenfell.
»Dieser Pfarrer da«, flüsterte Dot und lehnte sich so nah zu Elsa herüber, dass sie ihren Geruch wahrnahm (süß und schwer, wie ein Dessertwein), »war neu hier, als diese Kirche ihre glorreichen Zeiten hatte. Als die Fenster noch voller Buntglasscheiben waren.«
Nach ein paar eröffnenden Worten und einem Gebet informierte der Pfarrer die Gemeinde, dass es nun Zeit sei, den Chor singen zu hören. Ein oder zwei der Mitglieder hatte Elsa schon einmal in der Stadt gesehen, aber dank Kenneths detaillierter Ausführungen kannte sie jeden Einzelnen mit Namen und Stimmlage.
Der Mann mit dem buschigen Schnauzbart und dem sorgfältig gekämmten, geölten Haar war Hamel Rhys, der nach eigenen Angaben mit Bier anstatt mit Muttermilch aufgezogen worden war. Hinter ihm stand Hettie Moses, die Frau von Sidney, dem größten Wichtigtuer der Stadt, und daneben ein streng aussehendes, älteres Schwesternpaar, eineiige Zwillinge, die noch immer zusammenwohnten. Hettie war mit ihnen befreundet und hatte sich sorgsam die Haare aufgedreht und ihre Kleider so ausgewählt, als wäre sie der dazugehörige Drilling. Schließlich war da noch Abe Cosser, ein kleiner Mann, der eine Schafherde auf den Bergweiden des Drum Head hütete. In Thunderstown erzählte man sich, dass, genauso wie sich Hund und Herrchen glichen, auch der Schäfer seiner Herde ähnelte, und wie zur Bestätigung dessen hatte der kleine Abe Cosser weit auseinanderstehende Augen und die schrägen, vorspringenden Zähne eines Mutterschafs. Er hatte jedoch auch eine schöne Falsettstimme, und als Kenneth die Hände hob (Elsa konnte sehen, wie sein linkes Bein vor Nervosität zitterte) und der Chor zu singen begann, hob sich Abes Gesang lieblich klagend von den amateurhaften Stimmen der anderen ab und verwandelte den schlichten Choral in eine melancholische Harmonie, der das erhabene Echo der Kirche etwas nahezu Überirdisches verlieh. Dot schloss die Augen und atmete genießerisch auf, und als das Lied zu Ende war, durchzuckte Elsa etwas, das sich beinahe wie Traurigkeit anfühlte.
Dann folgte die Predigt des Pfarres, der sich mit seiner näselnden Stimme an die versammelte Gemeinschaft von Gläubigen wandte. Doch er verlor den Kampf gegen die Akustik des Gebäudes. Die Leute legten sich die Hände an die Ohren,
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