Der Mann, der den Regen träumt
um über dem Widerhall von Niesen, Räuspern, heruntergefallenen Gesangbüchern und der stetigen Unruhe der Tauben hoch über ihnen etwas zu verstehen.
Elsa, die es bald aufgab, den Worten des Pfarrers zu folgen, machte es sich auf der harten Kirchenbank so bequem wie möglich und betrachtete das Spiel der Lichtstrahlen, die durch die schlichten Mattglasscheiben der Fenster fielen. Draußen verschleierten immer wieder Wolken die Sonne und warfen Schatten auf die Stadt unter sich.
Sie dachte an früher, wenn sie samstags vor Sonnenaufgang wach geworden war und sich leise quietschend ihre Zimmertür geöffnet hatte, gefolgt von ihrem Dad, den Zeigefinger auf die Lippen gedrückt. Sie war aus dem Bett geschlüpft und ihm wie ein Schatten die Treppe hinunter gefolgt. Unten hatte er ihr ihren Mantel angezogen und dann waren sie zusammen aus dem Haus geschlichen, während ihr Dad ihre Schuhe an den Schnürsenkeln trug. Sie konnte sie nicht drinnen anziehen, da ihre Schritte Geräusche auf den Bodendielen machten. Die Dunkelheit am Morgen war anders als die mitten in der Nacht, besonders wenn man noch im Halbschlaf war. Sie war weitergeschlichen, Hand in Hand mit ihrem Vater, und hatte sich an die einzige Regel gehalten, die er für diese Art von Ausflügen aufgestellt hatte: Das hier bleibt unser Geheimnis – wenn wir wieder nach Hause kommen, darfst du kein Wort davon verraten. Aber das war immer erst lange nachdem sie faszinierende Flotten von Altokumulus im schummrigen Morgenlicht bestaunt hatten oder eine geisterhafte Lenticularis, die wie ein flaches Ufo über den fernen Ouachita Mountains schwebte.
An diese Regel hatte Elsa sich gehalten. Nie hatte sie ihrer Mutter auch nur ein Sterbenswörtchen davon erzählt, dass sie schon lange vor Tagesanbruch auf den Beinen gewesen war. Stattdessen hatten sie behauptet, ihr Vater hätte sie zur Ballettstunde gebracht, während ihre Mutter einmal ausschlief. Hin und wieder hatte sie ein paar Tanzschritte lernen müssen, um zu zeigen, was sie angeblich gelernt hatte, aber sie hatte nie ein schlechtes Gewissen wegen ihrer Lügen verspürt. Ihr war klar gewesen, dass ihre Mutter fuchsteufelswild geworden wäre, wenn sie herausbekommen hätte, was sie in Wirklichkeit machten, und außerdem bedeuteten Elsa diese kleinen Ausflüge mit ihrem Dad genauso viel wie ihm.
Als sie daran zurückdachte, fragte sie sich, warum ihr Dad sonntags nie mit ihnen in die Kirche gekommen war. Wenn er das getan hätte, wäre es wie ein Pakt gewesen: Stürme am Samstag, Kirche am Sonntag. Doch sie wusste, warum er es nicht getan hatte: Weil er süchtig gewesen war. Auch sonntagmorgens hatte er sich vor Tagesanbruch auf den Weg zum Wolkenbeobachten gemacht. Doch für Elsa hatten sich die Samstage sakraler angefühlt als die Sonntage. Darum wunderte es sie kein bisschen, dass die Menschen vor langer Zeit Stürme mit Göttern gleichgesetzt hatten. Als sie das erste Mal eine Stadt gesehen hatte, die von einem Tornado eingesaugt und wieder ausgespuckt worden war, hatte es ihr das Herz gebrochen und die unermessliche Gleichgültigkeit des Universums hatte Zweifel in ihr aufgeworfen, genauso wie andere über die Gleichgültigkeit einer Gottheit ins Zweifeln gerieten. Denn genau das war das Wesen von Stürmen: Sie wüteten mit der Inbrunst und Zerstörungswut antiker Götter. Und Wolken waren mehr als bloß Ornamente von göttlicher Symbolik, Wolken – unerreichbar und doch absolut real – waren seit jeher die Vorbilder für jedes von Menschen erdachte Götterreich. In jedem einzelnen Moment zogen Tausende von ihnen um den Planeten und trotzdem war es so leicht, in Häusern und unter Dächern ihre Existenz zu vergessen.
Wie oft hatte sie, umgeben vom Trubel des sonntäglichen Gottesdienstes, von der riesigen Himmelskirche geträumt? Elsa hatte schon immer das Gefühl gehabt, in den Weiten des unendlichen Universums viel mehr von Gott zu sehen als in einem schummrigen Bau aus Ziegeln und Stein.
Die heiligen Schriften ihres Vaters waren von Meteorologen verfasst worden. Sein liebster Prophet war der Blitz: Zeit seines Lebens hatte er einen einsamen Kreuzzug geführt, um so vielen Menschen, wie er nur konnte, die inneren Prozesse eines Blitzschlags zu erklären, als wäre dieses Wissen eine Offenbarung. Taxifahrer, Kellner, Verkäufer – niemand war vor ihm sicher. »Ein Blitz schlägt nicht ein«, erläuterte Elsas Vater dann, und wenn jemand den Fehler machte nachzufragen, hörte er nicht mehr auf zu
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