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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Al Shaw
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Schlimmste an der ganzen Sache war, dass Finn es, selbst als sie ihren Kopf an seine Brust gelegt und ihre Lippen auf seine gedrückt hatte, nicht für nötig befunden hatte, ihr davon zu erzählen.
    Der Schmetterling, den sie gefüttert hatte, flatterte wieder auf ihren Tisch und blieb mit ausgebreiteten Flügeln dort sitzen. Dann flog er wieder los und schwirrte um sie herum, doch Elsa schleuderte ihn mit einem harten Schlag zu Boden. Dort blieb er, hilflos mit den Flügeln schlagend, auf der Seite liegen. Sie stand auf und hob langsam ihren Stuhl an, rammte ihn mit aller Kraft zurück auf den Boden und zerquetschte das Insekt mit dem Stuhlbein auf dem Pflaster. Dann spuckte sie aus, um den Geschmack des Honiggetränks loszuwerden, und machte sich auf den Weg zurück zur Prospect Street.

In der Nacht wurde Thunderstown von einem Unwetter heimgesucht, das an den Türen rüttelte und an die Fenster klopfte. Elsa schlief schlecht, immer wieder aufgeschreckt durch das Heulen des Sturms.
    Als der Morgen anbrach, war sie zu müde, um noch wütend zu sein. Am Abend zuvor, als sie ins Bett gegangen war, hatte sie das Gefühl gehabt, sich in ihre eigene Wut zu legen, darin zu versinken und sich damit zuzudecken. Sie war wütend auf Finn gewesen, wütend auf Daniel, weil er ihr von Betty und dem Blitz erzählt hatte, wütend auf sich selbst, weil sie sich so angreifbar gemacht hatte, wütend auf die ganze Welt, weil die sich immer wieder neue Wege ausdachte, um ihr Leben zu verkomplizieren.
    Doch jetzt, am Morgen, spürte Elsa weder Wut noch irgendetwas anderes. Ihr Herz hatte sich, während sie schlief, zu einer kleinen Kugel zusammengerollt.
    Sie war nicht so, wie Daniel ihr vorgeworfen hatte zu sein. Sie glaubte genau wie er, dass ein Mensch aus den Erfahrungen eines anderen lernen sollte. Nur dass sie ihm das vorenthalten hatte, denn diese Genugtuung gönnte sie ihm nicht.
    Sie erinnerte sich daran, wie sie einmal zusammen mit ihrem Dad
    Luca, einen seiner Sturmjäger-Freunde, im Krankenhaus besucht hatte. Dessen Frau Ana-Maria war ebenfalls dort gewesen, sie hatte schweigend an seinem Bett gesessen und an den Stängeln der Blumen geknibbelt, die Elsas Dad ihr mitgebracht hatte. Ihr Vater hatte nur einen Steinwurf von Luca entfernt gestanden, als der Blitz eingeschlagen hatte, und ihm war absolut bewusst, dass genauso gut er an Lucas Stelle in diesem Krankenhausbett hätte liegen können. Ana-Maria hatte offensichtlich genau dasselbe gedacht und es sich wahrscheinlich auch gewünscht.
    Der Blitz hatte Luca auf der rechten Seite das Augenlicht genommen und eine sichelförmige Narbe hinterlassen, die von seiner Braue bis hinunter zum Kinn verlief. Außerdem hatte er die Pupille und die Iris vom Augapfel gesprengt, sodass nur noch ein pinkfarbener Ball übrig war, den die Ärzte unter einer Bandage verborgen hatten.
    Es war einer von jenen Blitzen gewesen, wie sie jeder Sturmjäger fürchtete. Einer, gegen den man sich nicht schützen konnte. Ein Trockenblitz. Also ein Blitz aus heiterem Himmel oder, genauer gesagt, von einem weit entfernten Gewitter, das womöglich noch nicht einmal zu sehen war, ein sich gabelnder Blitz, der mehrere Meilen weiter einschlug. Der Himmel über Lucas Auto war sommerlich klar gewesen und das Unwetter, dem sie hinterherjagten, noch weit entfernt und nur als grauer Streifen am Horizont zu sehen. Er hatte sich auf die Motorhaube gesetzt und zur Musik aus dem Autoradio gesummt, während Elsas Dad zum Pinkeln in die Büsche gegangen war.
    Wenn Ana-Maria die Wahl gehabt hätte, hätte sie Lucas partielle Blindheit wohl als Glück im Unglück hingenommen; verglichen mit dem tatsächlichen Schaden, war sein zerstörtes Auge kaum der Rede wert.
    Die Ärzte hatten erklärt, dass der menschliche Verstand nicht dafür geschaffen sei, einer so großen Menge an Elektrizität standzuhalten, und der Blitz die natürlichen Schaltkreise in Lucas Gehirn habe verschmoren lassen wie ein Stromstoß einen Computerchip. Träume, Erinnerungen und erlernte Verhaltensweisen seien durcheinandergewirbelt und völlig neu zusammengesetzt worden. Die Ärzte hatten sie gewarnt, dass Luca, wenn er aufwachte, womöglich nicht mehr Luca sein würde. Es könne sein, dass er ein völlig anderer Mensch sei und jeden Bezug zur Realität verloren habe. Träume könnten zu Erinnerungen geworden sein und Erinnerungen zu Träumen, die man nach dem Aufwachen vergaß. Ana-Maria war nichts anderes übrig geblieben, als abzuwarten und zu

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