Der Mann, der den Regen träumt
geschützt, außer dort, wo die Schlucht klaffte. Eine Eidechse, die sich hier gesonnt hatte, beobachtete sie einen Moment lang, bevor sie ihnen widerstrebend ihren Platz überließ und mit flirrenden Beinchen über den lohfarbenen Stein davonhuschte.
»Ist das hier der beste Platz dafür?«
Finn nickte begeistert und Elsa breitete die Decke aus. Er öffnete sein Papprohr und setzte sich dann neben sie auf die Decke. Die Felsen ringsum schützten ihre kleine Nische so zuverlässig vor dem Wind, dass die Papierbögen, die Finn hervorzog und auseinanderrollte, auf dem Boden liegen blieben.
»Wird Zeit, dass du es lernst.«
»Ich bin in so was ziemlich schlecht. Ich habe schon Schwierigkeiten, einen Brief so zu falten, dass er in den Umschlag passt.«
»Das hier ist etwas anderes.«
Finn faltete ein Blatt Papier auf die Hälfte und klappte die Ecken um, dann legte er die Kanten erneut aufeinander und danach konnte Elsa ihm nicht mehr folgen. Falten, glatt streichen, ein Knick hier, eine Drehung da – und plötzlich saß eine Papiertaube in seiner Handfläche.
»Darf ich mal?« Sie nahm die Taube und begann sie wieder auseinanderzuzupfen, um nachzuvollziehen, wie er sie gemacht hatte. Sie konnte sehen, dass der Winkel einer bestimmten Falte die Form der Flügel bestimmte und dass der Knick in der Mitte des Papiers den Rücken bildete, ansonsten aber sah sie nichts als geheimnisvoll verschachtelte Falten und noch mal Falten. Als sie das Gebilde komplett auseinandergenommen hatte, waren nur noch die Knicke im Papier übrig. Nichts daran erinnerte mehr an einen Vogel.
»Du bist dran.«
»Ehrlich, Finn, ich kann das nicht.«
Er begann, ihr Anweisungen zu geben. Selbst im idiotensichersten Tempo hatte Elsa Schwierigkeiten, ihnen zu folgen, doch sobald sie einen Fehler machte, führte er ihre Hände und korrigierte die Haltung jedes ihrer Finger wie die Nadel eines Plattenspielers. Seine Berührung war kühl, erfrischend in der Hitze, und seine Anleitung präzise. Er schien die Bewegungen ihrer Hände genauso intuitiv zu begreifen wie die Beschaffenheit der Vögel.
Schnell gab Elsa jedweden Versuch auf zu verstehen, was sie da eigentlich tat, sondern befolgte einfach eine seiner Anweisungen nach der anderen. Schließlich lag das Ergebnis rücklings vor ihr auf der Decke.
Sie lachte. »Sieht mehr aus wie ein altersschwacher Geier als eine Taube.«
Finn kratzte sich am Kopf. »Ich weiß gar nicht, woran es gelegen hat.«
»An mir, du Trottel.« Sie zuckte mit den Schultern. »Aber mach dir keine Gedanken, ich habe mich schon vor langer Zeit damit abgefunden, dass ich über keinerlei künstlerisches Talent verfüge. Aber ich fürchte, ich kann es nicht verantworten, das Ding fliegen zu lassen.«
Er nahm ihr den Vogel aus der Hand, faltete ihn wieder auseinander und friemelte eine Weile daran herum. Als er ihn ihr zurückgab, wirkte er schon einen Hauch weniger jämmerlich. »Versuch es.«
Sie warf ihn in die Schlucht.
Am Anfang schien es, als würde der Papiervogel tauchen. Elsa rechnete damit, dass er den ganzen Weg wie ein Stein hinabstürzen würde, und war umso erstaunter, als er sich im letzten Moment fing, ein Stück gerade weiterflog und sich schließlich in einem aufwärts führenden Halbkreis dem Himmel entgegenwarf. Elsa grinste und warf Finns Vogel hinterher. Dieser flog sofort, ließ sich von den Luftströmen tragen, und der Wind brachte seine Papierflügel zum Flattern. Die zwei Vögel schwebten auf unterschiedlicher Höhe, seiner elegant dahingleitend, ihrer mit einem unbeholfenen Seitendrall, bis plötzlich mit einem Krächzen ein neugieriger Adler aus den Tiefen der Schlucht aufflog. Er jagte hinter Finns Vogel her und versetzte ihm schließlich einen harten Hieb mit dem Schnabel. Das zerbeulte Papier verlor an Schwungkraft und die verletzte Taube versank rasch in den Schatten.
Elsa kicherte und klatschte in die Hände. »Heißt das, meiner hat gewonnen?«
Finn hielt ihr ein neues Blatt Papier hin, aber sie hob die Hände. »Man soll aufhören, wenn es am schönsten ist. Ich mache es mir lieber einfach gemütlich und sehe dir zu. Mach doch mal was Schwieriges, so richtig kompliziert.«
Finn blinzelte zu dem Adler hinauf, biss sich auf die Lippe und begann mit flinken Fingern zu falten, bis er einen eigenen Adler in der Hand hielt, mit gekrümmtem Schnabel und zackig gesägten Flügeln. Er warf ihn in die Luft und sah zu, wie er anmutig an Höhe gewann. Der Adler aus Fleisch und Federn, der
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