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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Al Shaw
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noch immer über der Schlucht patrouillierte, stieß einen Schrei aus, als sein Papierebenbild an ihm vorbeisegelte. Dann ergriff er die Flucht und ließ Finns Vogel allein seine Kreise ziehen.
    Elsa klatschte begeistert Beifall. »Das ist ja Wahnsinn! Wie hast du das gemacht? Du bist echt unglaublich, Finn!«
    Er errötete, und obwohl sie sich auf dem Weg hier herauf noch geküsst hatten, war Elsa ihre plötzliche Schwärmerei ein bisschen peinlich. Sie hatte sich noch immer nicht an die Offenheit gewöhnt, die so unbemerkt zwischen ihnen entstanden war. Ihre Beziehung mit Peter war mehr eine Art vorsichtiger Tanz gewesen, eine Serie aus Anspielungen und distanziertem Geflirte. Wenn das, was sie nun mit Finn verband, überhaupt etwas von einem Tanz hatte, dann war es ein schlaftrunkenes Ballett zweier Liebender, die des Nachts immer wieder aufwachten und ihre Glieder stets zu neuen Knoten verschlungen vorfanden.
    »Na ja«, entgegnete er. »Eigentlich ist das gar nicht mein Verdienst, ich weiß nämlich selbst nicht genau, wie ich es mache. Irgendwie hatte ich den Dreh gleich raus, als ich es das erste Mal versucht habe.«
    Sie sah zu, wie der Papieradler flatterte und schlingerte und sich in einer Kurve durch die heiße Luft schräg legte. »Das ist einfach wundervoll.«
    Finn starrte über die Schlucht hinweg.
    Verstohlen rückte sie näher an ihn heran, bis ihre Körper einander berührten.
    »Elsa«, sagte er, »hast du als Kind jemals auf dem Rücken gelegen und die Wolken beobachtet?«
    »Ja, natürlich. Das habe ich geliebt.«
    »Und hattest du da das Gefühl, dass in dem Moment alles richtig war? Wenn du mit dem Rücken zum Planeten geradewegs ins Universum gestarrt hast?«
    »Ich habe so lange dagelegen, bis ich irgendwann nicht mehr das Gefühl hatte, dass der Himmel über mir ist. Der Himmel war geradeaus und oben war immer in der Richtung, in die mein Kopf zeigte. So waren die Wolken vor mir, auf Augenhöhe, und ich hatte das Gefühl, ich könnte sie einfach berühren. Es war, ich weiß nicht, als wäre die Welt von vornherein so gedacht gewesen. Als wäre sie aus Versehen umgekippt und man könnte sie nur im Liegen so sehen, wie sie richtig ist.«
    »Genau so geht es mir mit dir. Du hast mich in die richtige Richtung gedreht. Du hast mich repariert. Zum ersten Mal seit meiner Kindheit habe ich das Gefühl, dass alles an mir zusammenpasst.«
    »Finn?«
    »Ich muss mich überhaupt nicht entscheiden, ob ich ein Mann oder das Wetter sein will. Du hast mir geholfen, das zu erkennen. Ich kann beides gleichzeitig sein.«
    »Finn, warte mal, da klebt was an deiner Wange.« Elsa streckte die Hand nach etwas aus, das wie ein Fussel oder ein Stückchen Watte aussah, doch zwischen ihren Fingern löste es sich auf. Es war ein winziger Wolkenfetzen. Sie wischte ihn beiseite und die Haut darunter war glatt und unversehrt. Dann sah sie einen weiteren Nebelstreifen direkt oben aus Finns Schädel aufsteigen, weiß und gekrümmt wie eine Feder aus einem Daunenkissen. Sie strich mit der Hand darüber und er verschwand.
    »Was ist da?«, wollte Finn wissen und versuchte vergeblich, einen Blick auf seinen eigenen Kopf zu werfen.
    Sie streichelte ihm über Wangen und Schläfen. Eine weitere Nebellocke kräuselte sich an der Kante seines Ohrs und umhüllte sein Ohrläppchen. »Ich weiß nicht«, antwortete sie. »Es sieht aus wie winzige Wölkchen.«
    Er berührte seinen Kopf mit dem Finger, verwirrt. Wieder schimmerte ein kleines Wolkenband auf seiner Kopfhaut, so fein wie der Dunst, der aus einer frisch geöffneten Champagnerflasche aufstieg. »Das ist noch nie passiert.«
    Elsa griff so sanft nach seiner Hand wie nach einer schwebenden Seifenblase. Nebel klebte an seinen Fingern, dort, wo er seinen Kopf berührt hatte.
    »Was sollen wir dagegen machen?«, fragte er besorgt.
    Ein längerer Dunstfaden stieg nun aus seinem Kragen auf, dann bildete sich ein weiterer aus einem feinen Hauch über seinen Brauen.
    »Nichts«, entgegnete sie. »Das hier sind keine Gewitterwolken. Sie sind eher wie die, die wir als Kinder beobachtet haben. Du bist doch immer noch ganz, oder? Vielleicht ist das hier genau das, wovon du gerade gesprochen hast. Vielleicht ist es so, wenn man ein Mensch und zugleich das Wetter ist.«
    Es dauerte nicht lange, bis Finns Körper so viel von diesem eigenartigen Nebel abgesondert hatte, dass seine Silhouette von einer dünnen Wolkenschicht umrahmt war. Und es strömte immer noch mehr davon lautlos aus seinen

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