Der Mann, der den Zügen nachsah
Abteile geschlossen, das Licht der Lampen gedämpft, und Reisende verschiedener Nationen und Sprachen, ein wirklich internationaler Zug, der in wenigen Stunden zwei Grenzen passieren würde.
Kees hatte eine Fahrkarte zweiter Klasse gelöst und hatte ein Abteil mit nur einem anderen Reisenden gefunden, der sich schon vor ihm in ganzer Länge auf einem der Polster ausgestreckt hatte und dessen Gesicht Kees nicht sehen konnte.
Kees hatte keine Lust zu schlafen, noch weniger, im Abteil sitzen zu bleiben, und so ging er drei- oder viermal gemächlich durch den ganzen Zug, wobei er in die Abteile zu spähen und irgend etwas zu entdecken versuchte…
Der Zugschaffner knipste sein Billett, ohne ihn anzusehen. Die belgische Grenzpolizei warf nur einen flüchtigen Blick in seinen Paß, und den Aufenthalt auf der Zollstation benutzte er zu einer Eintragung in sein Notizbuch: In Amsterdam den Zug 23 Uhr 26 genommen, zweiter Klasse.
Wenig später fühlte er sich von neuem gedrungen, etwas aufzuschreiben: Ich kann nicht begreifen, wieso Pamela sich über mich mokiert bat, als ich ihr mein Begehren vortrug. Nun hat sie’s! Ich konnte nicht einfach so gehen. Inzwischen wird ihr das klar geworden sein.
Wenn sie noch gelächelt oder spöttisch etwas erwidert hätte! Wenn sie sich sogar entrüstet hätte! Aber nein! Nachdem sie Kees von Kopf bis Fuß gemustert hatte, bekam sie einen Lachanfall, der überhaupt nicht enden wollte, ein schallendes, hysterisches Lachen, das sie schüttelte und sie nur noch anziehender machte.
»Ich verbiete Ihnen zu lachen!« hatte er mit aller Strenge gesagt.
Aber sie platzte nur von neuem los, bis ihr die Tränen in die Augen traten, und da hatte er ihre beiden Handgelenke umklammert.
»Ich will nicht, daß Sie weiter so lachen!«
Er hatte sie so heftig gestoßen, daß sie auf das Bett fiel. Und das Handtuch war zufällig da, in Reichweite neben dem Abendkleid.
»Die Fahrkarte bitte!«
Diesmal war es ein belgischer Schaffner, und der tat immerhin einen neugierigen Blick auf diesen Reisenden, der ungeachtet der Kälte sich stehend im Seitengang aufhielt. Aber daraus einen Schluß zu ziehen…
Der Reisegefährte von Popinga im Abteil hatte sich bei der Grenzkontrolle nur ein wenig aufgerichtet, und Kees hatte ein Allerweltsgesicht mit dunklem Lippenbärtchen erblickt.
Immerhin eine komische Nacht, fast so sehr wie die vorhergehende und wie die Stunden mit de Coster im Kleinen Sankt Georg. Was würde wohl de Coster junior sagen, wenn er wüßte?
Ob Pamela wohl Anzeige erstatten würde? In dem Fall, da man ja die Aktentasche in ihrem Zimmer fände, wäre Popingas Name morgen in allen Zeitungen.
War das nicht unvorstellbar? Ebenso unmöglich, sich alle weiteren Folgen auszudenken. Frida zum Beispiel war bei den katholischen Schwestern auf der Schule. Würde man da die Tochter eines Mannes behalten, der…?
Und im Schachverein! Das Gesicht von Copenghem! Und das von Dr. Claes, der sich allein für fähig hielt, eine Geliebte zu haben. Und nun…
Er schloß halb die Augen. In seinem Gesicht rührte sich nichts. Manchmal sah er Lichter vor dem Abteilfenster vorbeihuschen, und manchmal wurde der Lärm stärker, weil der Zug eine Station durchfuhr. Oder aber er ahnte eine weite schneebedeckte Ebene und darauf ein kleines Haus, das, weiß Gott warum, mitten in der Nacht erleuchtet war, vielleicht, weil es einen Toten gab oder eine Geburt…
Ob es wohl besser war, daß er seine Aktentasche bei Pamela vergessen hatte? Das fragte er sich. Alle paar Augenblicke hatte er das Bedürfnis, noch etwas in sein rotes Notizbuch zu schreiben.
Auf der französischen Grenzstation ging er auf den Bahnsteig und erkundigte sich, ob die Bahnhofswirtschaft geöffnet sei; wegen der Zollkontrolle mußte er einen Umweg machen, trank dann ein großes Glas Cognac und schrieb hastig in sein Buch: Stelle fest, daß Alkohol bei mir überhaupt keine Wirkung hat.
Der letzte Teil der Reise zog sich länger hin. Er hatte sich bemüht, Bekanntschaft mit seinem Reisegenossen im Abteil zu machen, der ein Makler für Edelsteine war. Aber der fuhr diese Strecke zweimal die Woche, hatte seine Gewohnheiten und zog es vor zu schlafen.
Dennoch fragte Popinga ihn:
»Sie wissen wohl nicht, ob das Moulin Rouge noch geöffnet ist?«
Er hatte das Bedürfnis, Menschen zu sehen, und nahm seine Wanderungen durch die Seitengänge wieder auf, von Wagen zu Wagen, und
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