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Der Mann, der den Zügen nachsah

Der Mann, der den Zügen nachsah

Titel: Der Mann, der den Zügen nachsah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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die Nacht nicht allein zu verbringen, würde man ihn bald ausfindig machen.
    Andererseits war es ihm zuwider, allein zu schlafen. Er
    hatte es im Hotel Beauséjour in der Rue Brey versucht, wo er seine beiden Briefe bekommen hatte, was ihm erlaubte, unter dem Namen Smitson am Schalter nach postlagernden Sendungen zu fragen.
      Er hatte es am folgenden Tag wieder versucht in einem Hotel im Viertel Vaugirard, und er hatte mitten in der Nacht aufstehen müssen, um sich jemand zur Gesellschaft zu suchen.
      Das war eine merkwürdige Sache. Wenn er eine Frau bei sich hatte, schlief er sogleich fest ein und wachte nicht vor dem Morgen auf. Wenn er hingegen allein war, rührten sich seine Gedanken, zuerst ganz zaghaft, wie ein Fahrzeug auf abfallender Straße, dann schneller und immer schneller, und immer mehr Gedanken gleichzeitig, Gedanken an unangenehme Dinge, so daß er sich schließlich lieber im Bett aufsetzte und Licht machte.
    Hätte er das irgend jemand erzählt, so hätte der
    geschlossen, ihn plage sein Gewissen, aber das war gar nicht der Fall. Zum Beispiel dachte er niemals an Pamela, die ja tot war, während er immer wieder Jeanne Rozier vor sich sah, die kaum etwas abbekommen hatte und die ihn nicht von sich aus verraten würde. Er sah auch Rose vor sich, bösartig, obwohl sie ihm nichts angetan hatte. Wieso erschien sie ihm in all seinen Phantasien als seine böse Fee? Und wieso träumte er immer wieder, daß Jeanne Rozier, nachdem sie ihn lange und mit zärtlicher Ironie aus ihren grünen Augen angesehen hatte, ihn auf die Augen küßte und ihre kühle Hand auf seine Hände legte?
      War es vielleicht besser, solche unruhigen Nächte in Kauf zu nehmen, statt zu riskieren, daß er von einer zufälligen Schlafgenossin erkannt wurde? Und gab es denn nicht einen Journalisten, der Mitleid hatte, oder einen, der so blöd war zu schreiben: »Die Polizei weiß dies und das… Sie überwacht dieses oder jenes Milieu…«
    Konnte es nicht sein, daß man, weil er seine Briefe, dazu
    auch den Rohrpostbrief an Kommissar Lucas, in verschiedenen Brasserien geschrieben hatte, alle Lokale dieser Art überwachte? Selbst ohne eine solche gezielte Überwachung drohte von dieser Seite Gefahr, denn die Kellner in den Lokalen sind von Beruf gute Beobachter; zudem lesen sie die Zeitungen und haben in dem ständigen Kommen und Gehen doch noch genügend Zeit, sich von den Gästen ein genaues Bild zu machen.
    Warum sagten die Zeitungen nicht rundheraus:
    »Erst gestern sind in den zentral gelegenen Cafés fünf
    Ausländer, die Schreibpapier verlangten, der Polizei gemeldet und auf verschiedenen Polizeirevieren identifiziert worden…«
    Mangels dessen sah Popinga sich genötigt, zehnmal mehr Vorsicht walten zu lassen, und zumal an diesem Abend überkam ihn eine gewisse Ratlosigkeit.
      Schuld daran war natürlich vor allem der Silvesterabend. In den meisten Cafés konnte man sich nicht niederlassen, weil der Raum für das Souper hergerichtet wurde und die Kellner, auf den Tischen stehend, Mistelzweige und Papiergirlanden an der Decke aufhängten.
    Popinga mußte an Heiligabend vor acht Tagen denken,
    in der Bar in der Rue de Douai, wo Jeanne Rozier ihn zweimal aufgesucht hatte. Sie hatte das zweimal auf sich genommen, obwohl sie doch in Gesellschaft von Louis und seinen Freunden war! Dann diese abenteuerliche Fahrt im gestohlenen Auto, die Ankunft in Juvisy, der Schnee auf dem Verschiebebahnhof, das Keuchen der Lokomotiven, der dumpfe Aufprall der Waggons…
      Er ging weiter… Er war in diesen beiden Tagen viel marschiert, aus Mißtrauen gegen die Cafékellner, und wenn er halt gemacht hatte, dann in einem der kleinen Bistros, wie es sie in allen Vierteln gibt und bei denen man sich fragt, wovon sie leben, denn man sieht nie jemand darin.
      Er hatte nicht den Mut, irgendwo schlafen zu gehen, und er fragte sich, ob Kommissar Lucas wohl auch Silvester feiern würde. Und wenn das der Fall war, wo mochte ein Kommissar von der Kriminalpolizei feiern?
      Eine gewisse Schlaffheit überkam ihn. Aber das würde mit den Festtagen vergehen, wenn in Paris nicht mehr diese nervöse Atmosphäre herrschte und man nicht mehr unter dem Zwang stand, sich um jeden Preis amüsieren zu müssen.
    Aus Furcht, er könnte versucht sein, in der Rue de Douai nachzusehen, ob die Blumenhändlerin noch da wäre, hatte er für diese Nacht das fast gegenüberliegende Viertel gewählt, Gobelins, und er fand, daß es eines der traurigsten von Paris

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