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Der Mann, der den Zügen nachsah

Der Mann, der den Zügen nachsah

Titel: Der Mann, der den Zügen nachsah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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wäre, mit seinen breiten Avenuen, die weder alt noch modern waren, seinen eintönigen, kasernenartigen Häuserreihen und seinen Cafés, in denen sich eine Menge drängte, die weder reich noch arm war. Schließlich landete er in einem dieser Lokale, einer Brasserie an einer Straßenecke, wo ein Plakat das Silvester-Diner zu vierzig Francs ankündigte, Champagner inbegriffen.
    »Sie sind allein?« verwunderte sich der Kellner.
      Er war nicht nur allein, sondern auch einer der ersten und hatte Zeit, alle Einzelheiten zu beobachten: wie die fünf Musiker, einer nach dem anderen, ankamen und sich beim Auspacken der Instrumente ihre Geschichtchen erzählten, während die Kellner hübsche Mistelsträußchen vor den Gedecken aufbauten und die Servietten fächerartig falteten, als handelte es sich um ein Hochzeitsfest in einer kleinen Stadt.
      Dann kamen die Gäste an, und das glich nun mehr und mehr einer Hochzeit, so daß Popinga sich fragte, ob es nicht diskreter sei, sich zurückzuziehen.
      Hier kannte sich wirklich jedermann; man rückte die Tische aneinander, so daß etwas wie eine Festtafel entstand. Das hier waren lauter Familien der gleichen Art wie die in den Logen des Cinéma Saint-Paul: zweifellos Kaufleute aus dem Viertel, peinlich sauber gewaschen, parfümiert, in ihren besten Sachen, und die Frauen prangten fast alle in neuen Kleidern.
      Keine Viertelstunde, und schon schwirrte der Raum, der bei Popingas Eintritt so öde und leer gewesen war, von lauten Reden, Gelächter, Musik und dem Klappern der Messer, Gabeln und Gläser.
    Obendrein waren alle im Saal in ausgelassener Stimmung, denn dazu waren sie hergekommen, und sie versuchten einander zu übertönen, zumal die Frauen in reiferem Alter, wobei sich die dicken besonders hervortaten.
    Kees speiste wie die anderen, ohne sich viel Gedanken
    zu machen. Die Sache erinnerte ihn, weiß Gott wieso, an die Geschichte mit dem Puderzucker in der Ochsenschwanzsuppe, als sein Freund Professor geworden war. Wie konnten nur die Zeitungen gleichsam darauf warten, daß er nochmal so etwas wie den Überfall auf Pamela begehen würde?
      Er saß in einem Winkel des Raumes. Nicht weit von ihm an einer langen Tafel mit mehreren untereinander bekannten Familien thronte eindrucksvoll ein behäbiger Mann in einem etwas zu engen Smoking mit einer goldenen Uhrkette und einem Schnurrbärtchen, das wie frisch lackiert aussah, und aus der Unterhaltung schloß Kees, daß er ein Stadtrat sein mußte oder etwas in der Art.
      Seine Frau war nicht minder eindrucksvoll, eingezwängt in ein schwarzseidenes Abendkleid, auf dem sie wie in einer Vitrine eine Menge echter oder falscher Diamanten zur Schau stellte.
      Und dann war da noch, links vom Vater sitzend, ihre Tochter, die ihnen beiden ähnlich und doch nicht häßlich war. Zweifellos würde sie eines Tages mehr der Mutter gleichen, aber vorläufig war sie noch frisch und unwahrscheinlich rosig in ihrem blauen Seidenkleid; sie war noch nicht eigentlich fett, aber weich im Fleisch und so eng geschnürt, daß man manchmal meinte, sie habe Mühe zu atmen.
    Aber was kümmerte das schon Popinga? Er war mit seinem Essen beschäftigt. Nebenbei hörte er die Musik, und als die Paare zwischen den einzelnen Gängen zu tanzen begannen, kam es ihm nicht entfernt in den Sinn, daß auch er wie die anderen sich zwischen den Tischen im Kreise drehen könnte.
      Aber eben dazu kam es, dummerweise. Während er an anderes dachte, blickte er just in dem Moment, als ein neuer Walzer begann, zu dem Mädchen im blauen Seidenkleid hin, und zweifellos deutete sie seinen Blick als Aufforderung, denn sie lächelte und machte eine entsprechende Geste, die zu besagen schien:
    »Wollen wir?«
      Dann erhob sie sich, strich die Falten an ihrem Kleid glatt und trat auf Popinga zu, der auf diese Weise mitten zwischen die Tanzpaare geriet. Seine Partnerin hatte feuchte Hände und strömte einen etwas faden Duft aus, der indessen nicht unangenehm war. Beim Tanzen lehnte sie sich mit ihrem ganzen Gewicht auf ihren Partner und drückte ihre Brust gegen seine, während die Eltern ihnen wohlgefällig zusahen.
      Popinga hatte sich noch gar nicht von dem Schreck erholt. Als er sich in dieser Haltung im Spiegel erblickte, fragte er sich, ob er das überhaupt sei, und er schnitt eine Grimasse. Was hätte dieses dicke Mädchen gesagt, hätte es gewußt, daß…
      Und mit einemmal verstummte die Tanzkapelle, das Schlagzeug machte einen Heidenlärm, alle

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