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Der Mann, der den Zügen nachsah

Der Mann, der den Zügen nachsah

Titel: Der Mann, der den Zügen nachsah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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schrien durcheinander, lachten, küßten sich, und Kees sah das weiche Gesicht sich zu seinem erheben, und er empfing zwei Küsse auf die Wangen.
      Mitternacht! Alle Leute gingen aufeinander zu, lachten, stießen und umarmten einander, und Popinga, der nach zwei Küssen von der Tochter etwas verdutzt dastand, bekam noch zwei vom Vater, dann noch von einer Frau an dem Tisch, die vermutlich eine Gemüsehändlerin war.
    Luftschlangen kamen jetzt von allen Ecken geflogen und
    kleine Wollbälle in allen Farben, welche die Kellner in aller Eile verteilt hatten. Die Tanzkapelle setzte wieder ein, und Popinga fand sich, ganz ohne es zu wollen, wieder mit dem Mädchen in Blau im Arm.
    »Blicken Sie nicht nach links«, flüsterte sie ihm zu.
      Und während der Tanz, noch wilder, losging, vertraute sie sich ihm an:
      »Ich weiß nicht, was er tun wird. Nein! Führen Sie mich auf die rechte Seite. Ich habe ja solche Angst, daß er einen Skandal macht…«
    »Wer?«
      »Blicken Sie nicht hin, denn er würde merken, daß wir von ihm sprechen!… Sie werden ihn gleich sehen. Ein junger Mann im Smoking, der ganz allein da ist… Brünett, mit einem Scheitel auf der Seite… Wir waren so gut wie verlobt, aber dann wollte ich nicht mehr, weil ich Sachen über ihn gehört hatte…«
      Zweifellos hatten die paar Gläser Champagner, die sie getrunken hatte, sie so vertrauensselig gemacht. Und wirklich war die ganze Atmosphäre dazu angetan, sich gehenzulassen, sich zu verbrüdern. Hatten nicht alle sich schon geküßt? Jetzt ging es so weiter, man suchte in den Ecken, wen man etwa ausgelassen hatte, man führte die Frauen unter den Mistelzweig, um sie mit einem Wangenkuß zu überfallen.
    »Ich sage Ihnen das nur, weil ich Sie warnen möchte.«
    »Ja…« sagte er, nicht sehr überzeugt.
      »Vielleicht ist es besser, wenn Sie mich nicht mehr auffordern. Wie ich ihn kenne, ist er zu allem fähig! Obendrein hat er mir gedroht, ich würde nie die Verlobte eines anderen sein.«
    Zum Glück ging der Tanz zu Ende, und das junge
    Mädchen kehrte an seinen Tisch zurück, während die Mutter Popinga diskret zulächelte, wie zum Dank, als hätte er der ganzen Familie einen Dienst erwiesen.
      Kees spähte aus seiner Ecke suchend nach dem jungen Mann, von dem die Rede gewesen war, und erkannte ihn sogleich, denn er war einzig in seiner Art und hatte tatsächlich einen Seitenscheitel, der die von einer schiefen Nase herrührende Asymmetrie noch unterstrich.
      Er platzte vor Wut, und man brauchte nicht lange hinzusehen, um das festzustellen! Er war bleich! Seine schrecklichen Blicke waren fest auf das Mädchen im blauen Kleid gerichtet, und seine Lippen bebten.
      Wieso kam nur Popinga das alles vor wie von einem Amateur gemalt, wo die Farben zu kraß und die Personen zu genau bis in alle Einzelheiten ausgeführt sind? Die Dinge bekamen eine überraschende Tiefe, und die fünf Musiker schafften es, den Saal mit einem donnerähnlichen Lärm zu erfüllen. Alle Welt war wie von einer Hysterie gepackt und lachte über nichts, über eine Luftschlange oder über ein buntes Wollbällchen, das einen Herrn im Nacken oder auf die Nase traf, und jedermann schwamm in einer sozusagen unmenschlichen Seligkeit, ausgenommen der junge Mann mit der schiefen Nase, der gleichsam die Rolle des Schurken im Schauerdrama eines Schmierentheaters übernommen hatte.
      Im Grunde war es falsch gewesen von Popinga, nicht Sekt zu trinken wie alle anderen. Vielleicht hätte er sich dann der Stimmung anpassen können, und es wäre sehr komisch für ihn gewesen, Neujahr in einer so ausgelassenen familiären Umgebung zu erleben.
      Von Zeit zu Zeit sah das junge Mädchen mit einem Verschwörerblick zu ihm herüber, als wollte sie sagen:
    »Recht so! Es ist besser, wenn Sie mich nicht nochmal
    auffordern! Sie sehen ja selbst, wie gefährlich er ist!«
      Was konnte der junge Mann sein? Ein Bankangestellter? Nach seiner eleganten Aufmachung zu schließen eher ein Verkäufer in einem großen Kaufhaus. Jedenfalls ein leidenschaftlicher junger Mann, der sich selbst einen ganzen Roman, eine ganze Tragödie vormachte und sich dazu als Partnerin die blonde Tochter des Stadtrats ausersehen hatte.
      Der tanzte gerade mit seiner Frau, dann mit seiner Tochter und dann nacheinander mit allen Damen an seinem Tisch, wobei er komisch umhersprang und Extratouren machte, zum Gaudi der Zuschauer: der Chef mit einem Feuerwehrhelm aus Pappmache.
      Man hatte

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