Der Mann, der den Zügen nachsah
Glück in den Annalen der Kriminalität selten ist, für den es aber in England und Deutschland gewisse Präzedenzfälle gibt.
Die Neurotiker dieser Art, meist mit einem moralischen Defekt und gewissenhaft in ihrer Gewissenlosigkeit, sind von einer trügerischen Kaltblütigkeit, die sie jedoch verhängnisvolle Fehler begehen läßt.
Nehmen wir an, es sei nicht eine Frage von Stunden, sondern von Tagen. Schon jetzt hat man mehrere Spuren verfolgt. Heute morgen wurde in der Gare de l’Est auf den Hinweis einer achtbaren Reisenden hin ein Mann verhaftet, auf den die Personenbeschreibung von Popinga paßte, der sich aber nach seiner Identifizierung im Kommissariat als ein ehrbarer Handelsvertreter aus der Gegend von Straßburg herausstellte.
Ein Umstand allerdings macht die Fahndung einigermaßen schwierig: Kees Popinga spricht fließend vier Sprachen, und das erlaubt ihm, sich ebenso gut als Engländer, Deutscher oder Holländer auszugeben.
Andererseits hat sich aufgrund des Verhörs von Jeanne Rozier, die es anfangs ablehnte, eine Klage einzureichen, eine genaue Personenbeschreibung aufstellen lassen, die für die Polizei von größtem Wert ist.
Die Öffentlichkeit mag also versichert sein: Popinga wird nicht weit kommen.
Seltsamerweise machte ihn dieser Artikel eher optimistisch, und er ging in die Toilette hinunter, nur um sich im Spiegel zu betrachten.
Er war nicht abgemagert. Er war in bester Form. Einen Moment hatte er daran gedacht, sich die Haare zu färben oder sich einen Bart stehenzulassen, aber er sagte sich, daß man ihn weniger unter seinem natürlichen Aussehen als vielmehr unter irgendeiner Tarnung suchen würde.
Dasselbe galt für seinen grauen Anzug, der so unauffällig wie möglich war.
Nur beschloß er, es wäre besser, einen blauen Mantel zu tragen!
Und so bezahlte er seine Kaffees, gab seine Briefe auf dem Postamt im Bahnhof auf und wandte sich zu einem Kaufhaus für Bekleidung, das er am Morgen in der Nähe der Bastille gesehen hatte.
»Ich möchte einen blauen Mantel… Marineblau…«
Und noch während er das in der ersten Etage des großen Kaufhauses zu einem Verkäufer sagte, wurde er sich einer neuen Gefahr, einer neuen Marotte bewußt: Tatsächlich hatte er die Gewohnheit angenommen, die Leute mit einer gewissen Ironie anzusehen. Als wollte er sie fragen: »Was denkst du denn darüber? Hast wohl nicht die Zeitungen gelesen? Du ahnst wohl nicht, daß du im Begriff bist, den berühmten Popinga zu bedienen, den Verrückten aus Holland?…«
Er probierte Mäntel an, die fast alle zu klein oder zu eng waren. Schließlich fand er einen, der ihm ungefähr paßte, aber von höchst minderwertiger Qualität war.
»Ich behalte ihn gleich an«, entschied er.
»Und wohin sollen wir den anderen schicken?«
»Wenn Sie ihn mir freundlichst einpacken wollen, nehme ich ihn selbst mit.«
Denn eben diese Details waren gefährlich. Auch dies, mit einem neuen Mantel angetan und mit einem Paket unterm Arm herumzuspazieren! Zum Glück war es dunkel, und die Seine war nicht weit, so daß er sich des sperrigen Pakets entledigen konnte.
Trotz der Albernheiten über ihn in der Presse hatten die Journalisten das Gute, daß sie ihm Hinweise auf die Gedankengänge von Kommissar Lucas lieferten.
Es sei denn… es sei denn, daß Lucas dies oder jenes veröffentlichen ließ, nur um ihn zu täuschen!
Das war schon komisch! Sie kannten einander nicht, der Kommissar und er. Sie hatten sich nie gesehen. Sie waren wie zwei Spieler, zwei Schachspieler, die ihre Partie spielen, ohne die Züge des Gegners zu sehen.
Von welchen Maßnahmen war in der Zeitung die Rede? Wieso schien man anzunehmen, daß er einen weiteren Überfall plante?
»Reine Provokation!« entschied er bei sich.
Toll! Man glaubte ihm alles mögliche suggerieren zu können! Man hielt ihn, wenn nicht für verrückt, so zum mindesten für krank! Man stachelte ihn zu neuen Untaten an, damit er sich eher verrate.
Was mochte Jeanne Rozier zu seiner Personenbeschreibung beigetragen haben? Daß er grau gekleidet ging, wußte schon alle Welt! Daß er Zigarren rauchte? Daß er nur noch dreitausend Francs in der Tasche hatte? Daß er unrasiert war?
Das beunruhigte ihn nicht, nein! Aber es machte ihn etwas nervös, nicht zu wissen, was Kommissar Lucas dachte. Welche Anweisungen hatte er seinen Leuten gegeben? Wo suchte man nach ihm? Wie ging man dabei vor?
Vielleicht dachte
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