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Der Mann, der den Zügen nachsah

Der Mann, der den Zügen nachsah

Titel: Der Mann, der den Zügen nachsah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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Scherzartikel verteilt, und Popinga hatte eine weiße Seeoffiziersmütze bekommen, die aufzusetzen er sich jedoch hütete.
      Zweimal wandte die Mutter des Mädchens sich mit einem verbindlichen Lächeln zu ihm um, was besagte:
    »Sie tanzen nicht mehr?«
      Und gewiß hatte sie zu ihrem Gatten gesagt: »Macht einen wirklich soliden Eindruck, der Herr!«
      Inzwischen tanzte ein junger Mann, der aus irgendeiner Ecke gekommen war, wo Popinga ihn noch nicht bemerkt hatte, mit dem blauen Seidenkleid, und Kees mußte plötzlich erkennen, daß die Gefahr nicht auf einer Einbildung beruhte, sondern daß sich im Blick des Verliebten mit der schiefen Nase nun wirkliche Tragik ausdrückte.
    Wohl zehnmal während des Tanzes spürte man, daß er im Begriff war aufzuspringen, und Popinga sah mit Unbehagen, daß er seine rechte Hand immer in der Tasche verborgen hielt. »Kellner!« rief er.
    »Sogleich, mein Herr, sogleich!…«
      Popinga spürte intuitiv, daß etwas passieren würde, und wollte so schnell wie möglich aufbrechen. Die anderen amüsierten sich weiter, ohne etwas zu ahnen, aber für ihn war es so, als ob der junge Mann mit der schiefen Nase schon Krach geschlagen hätte.
    »Also, Kellner?«
      »Ja, mein Herr! Sie wollen doch nicht schon aufbrechen? Es ist noch nicht einmal ein Uhr…«
    »Was habe ich zu zahlen?«
      »Wie Sie wollen… Wie ich schon sagte… Achtundvierzig und sieben. Macht fünfundfünfzig Francs.«
      Popingas böse Vorahnung grenzte an Panik. Es schien ihm gefährlich, auch nur ein paar Sekunden Zeit zu verlieren, und er wartete ungeduldig auf seine Garderobe; dabei spähte er immer nach dem »Schurken«, der nicht mehr an seinem Platz war, während das junge Mädchen in Blau unentwegt tanzte und Kees bei jedem Tanz vage zulächelte.
    »Danke…«
      Er sprang so überstürzt auf, daß er beinahe den Tisch umgestoßen hätte.
      Die Frau des Stadtrats warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. »Schon?« schien sie sagen zu wollen.
    »Und mich haben Sie nicht aufgefordert!«

  Er erreichte die Windfangtür. Seinen Hut hatte er noch in der Hand. Durch die erste Tür war er hindurch…
    Der Schuß war ganz deutlich zu hören, trotz der Musik, und ihm folgte eine Stille der Bestürzung. Kees wollte sich schon umwenden, aber er begriff, daß er dieser Versuchung um jeden Preis widerstehen mußte. Er sah, welche Gefahr ihm drohte und daß es höchste Zeit war, sich von diesem gutbürgerlichen Familienlokal zu entfernen, wo sich soeben ein Liebesdrama abgespielt hatte.
      Er wandte sich nach links, dann nach rechts, kam durch Straßen, die er nicht kannte, eilte immer weiter und dabei fragte er sich, ob das Mädchen in dem blauen Seidenkleid wohl tot sei, und stellte sich vor, wie eindrucksvoll das sein mußte, sie da am Boden liegen zu sehen, wie eine große Puppe mitten zwischen den Luftschlangen und den Wollbällchen.
      Er war schon ziemlich weit gegangen, als er ein voll bemanntes Polizeiauto sah, das mit Höchstgeschwindigkeit in Richtung Gobelins fuhr, und erst eine Viertelstunde später traute er sich stehenzubleiben, als er plötzlich den Boulevard Saint-Michel erkannte und linkerhand das Café, in dem er mit dem Japaner Schach gespielt hatte.
      Erst jetzt erfaßte ihn der Schrecken. Er machte sich klar, was er da riskiert hatte. Er wischte sich die Stirn ab und fühlte, daß seine Knie zitterten.
    Wäre das nicht zu verrückt gewesen, wenn ausgerechnet
    er, der doch sozusagen wissenschaftlich gegen den Kommissar Lucas und gegen eine ganze Welt einschließlich der Presse gekämpft hatte, sich schnappen ließe, bloß weil ein eifersüchtiger Jüngling einen Revolverschuß abgab?
      Er mußte sich also in Zukunft vor der Menge in acht nehmen, denn in der Menge passierte immer irgend etwas, ein Drama, ein Unfall, und schon wird man nach dem Ausweis gefragt…
    Und ebensowenig durfte er am Boulevard Saint-Michel bleiben, denn das schien ihm, zu Recht oder zu Unrecht, einer der Orte zu sein, wo man nach ihm suchen könnte. Am Montmartre auch! Und am Montparnasse! Besser, sich wieder einem stillen Viertel wie Gobelins zuzuwenden, sich ein ruhiges Hotel zu suchen und zu schlafen…
      Und hatte er im übrigen nicht noch zu arbeiten? Seit gestern abend hatte er seine Notizen nicht mehr fortgeführt. Allerdings war außer dem Revolverschuß nicht allzuviel nachzutragen.
      Aber er hatte noch einen anderen Entschluß gefaßt. Da ihm leicht etwas zustoßen konnte und

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