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Der Mann, der den Zügen nachsah

Der Mann, der den Zügen nachsah

Titel: Der Mann, der den Zügen nachsah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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nicht zu weit vorzuwagen, daß allem Anschein nach Kees Popinga, der Angreifer von Jeanne Rozier, jetzt nicht mehr nur von der Polizei gesucht wird, sondern daß die ganze Unterwelt ihm an den Kragen will.
       Damit ist, wie wir glauben, seine Verhaftung binnen kurzem so gut wie sicher. Es sei denn, ein Zufall…

    Als Popinga sich diesmal im Spiegel an der gegenüberliegenden Wand betrachtete, sah er, wie blaß er geworden war, und daß seine Lippen kein spöttisches Lächeln mehr zustande brachten.
    Die Ereignisse bestätigten seine Befürchtungen, und ohne Saladin, dem er jetzt gar nicht mehr so böse war, hätte er davon nichts gewußt, wäre weiter überall ein und aus gegangen, ohne zu ahnen, was sich da über ihm zusammenbraute.
      So verdammt einfach war das! Der Streich von Juvisy war geglückt und die Bande verhaftet, aber Lucas, statt ein Triumphgeschrei zu erheben, hatte die Zeitungen mit Histörchen von Morphium und Heroin abgespeist.
      Gewiß hatte er Louis den enthüllenden Brief von Popinga gezeigt und, wie sich nun zeigte, nicht gezögert, ihm einen schmutzigen Handel vorzuschlagen.
      So ging das also! Die Polizei arbeitete mit Louis zusammen! Sie ließ diesen frei, damit er Popinga den Garaus machte. Anders ausgedrückt: Aus eigener Kraft war die Polizei unfähig, Hand auf ihn zu legen!
    Was Kees empfand, war nicht mehr nur Verachtung oder
    Groll, sondern ein tiefer, unüberwindlicher Ekel. Er verlangte Schreibpapier und zog seine Füllfeder hervor, aber statt zum Schreiben anzusetzen, zuckte er nur müde die Achseln. An wen schreiben? An Saladin? Um die Ausführungen seines Artikels zu bestätigen? An Kommissar Lucas, um ihn mit aller Ironie zu beglückwünschen? An wen also und wozu überhaupt?
    Weil Louis sich jetzt auf die Jagd machte, glaubte man
    die Partie schon gewonnen und rief den Sieg aus. Von nun an würden alle Straßenmädchen von Paris, alle Herumtreiber, alle Inhaber von zweifelhaften Bars und Hotels die Augen offen halten, immer bereit, sogleich die Polizei zu alarmieren. Wenn die Polizei ihn auch nie gesehen hatte, er, Louis, kannte ihn.
    »Kellner! Was habe ich zu zahlen?«
      Er bezahlte, ging aber nicht. Wozu auch? Er spürte auf einmal die Müdigkeit, die sich bei so vielen Wanderungen quer durch Paris angesammelt hatte. Er blieb auf der plüschbezogenen Bank sitzen und blickte teilnahmslos auf die Straße und die vorbeiziehenden Regenschirme.
    In Wahrheit gab man ganz offiziell einem Autodieb vor
    ihm den Vorzug, einem Vorbestraften, der obendrein von der Prostitution lebte. So war es doch!
      Niemand hätte das Gegenteil behaupten können. Und wenn Louis Erfolg hätte, würde man zweifellos über die Missetaten der Bande von Juvisy ein Auge zudrücken.
    »Kellner!«
      Er war durstig. Wenn schon! Er mußte nachdenken, und ein Glas Cognac würde ihm dabei helfen.
      Wenn man es recht bedachte, war es falsch von ihm gewesen, nach der Geschichte mit Jeanne Rozier aufzuhören. Oh, er war ein heller Kopf! Er verstand allmählich den Mechanismus der öffentlichen Meinung. Richtig wäre gewesen, wenn man am folgenden Tag in den Zeitungen hätte lesen können: K ees Popinga überfällt junge Frau in einem Zug…
      Und so weiter, unaufhörlich neue Meldungen, damit das Publikum in Atem gehalten würde und sich um ihn selbst eine Legende bilden konnte.
      Hätte man sich über das Schicksal von Landru so leidenschaftlich erregt, wenn er nur eine oder zwei Frauen umgebracht hätte?
      Vielleicht war es auch falsch gewesen, in dem Brief zu schreiben, was er wirklich dachte, statt zu lügen. Wenn er zum Beispiel sie alle hätte glauben lassen, daß er sich schon in Groningen, wo alle Welt ihn für einen mustergültigen Bürger hielt, solche mysteriösen Überfälle geleistet hätte?
      Er las noch einmal den Artikel von Saladin, der ihn in seiner Idee bestärkte: Der Held der Geschichte war nicht mehr er, Popinga, sondern Louis, der jetzt die Hauptrolle übernahm.
    Schon morgen würde der Geliebte von Jeanne die
    Sympathien auf seiner Seite haben! Die Leute würden sich leidenschaftlich für diese Menschenjagd im Untergrund von Paris interessieren, durchgeführt von einem Vorbestraften mit dem schweigenden Einverständnis der Polizei!
      Entmutigt, nein, das wollte er nicht sein, um keinen Preis. Es war sein gutes Recht, für einen Moment müde zu sein und das Ausmaß der Ungerechtigkeit zu sehen, deren Opfer er war. Wie viele mochten ihm wohl jetzt auf den

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