Der Mann, der den Zügen nachsah
entdeckte schließlich ein paar Zeilen in der Rubrik »Vermischtes«:
Gestern nacht hat bei einer Silvesterfeier in einem Café im Viertel von Gobelins ein verschmähter Liebhaber, Jean R., auf Germaine H. geschossen, die Tochter eines Weinhändlers, der zugleich einer unserer beliebtesten Stadträte ist. Die Kugel hat zum Glück nur einen anderen Tänzer leicht verwundet, Germain V., der rasch gepflegt wurde und dann nach Hause gehen konnte. Jean R. ist aufs Revier geführt worden.
Er lachte in sich hinein, ohne recht zu wissen, warum. Aber komisch genug dieses Drama, das so geendet hatte oder vielmehr womöglich mit einer Heirat enden würde. Denn Popinga war sich nicht sicher, ob Germaine H. es nicht, wie man so sagt, darauf angelegt hatte!
Blieb noch zu erfahren, was Julius de Coster junior auf sein Inserat geantwortet hatte, falls der nicht vergessen hatte, jeden Tag die Morning Post zu lesen. Popinga nahm einen Bus, denn er hatte durch halb Paris zu fahren, um das Postamt 42, Rue de Berri, zu erreichen. Er trat ohne Zögern an den Schalter für postlagernde Sendungen und präsentierte seine beiden Briefumschläge auf den Namen Smitson.
Ohne weiteres suchte der Beamte unter dem Buchstaben S und reichte ihm einen Brief, dessen Adresse mit Maschine geschrieben war.
Er verzog sich in eine Ecke, um ihn zu öffnen. Der Brief fühlte sich dick an. Er enthielt zunächst vier Pfund-Noten, dann ein Blatt mit ein paar Zeilen, ebenfalls in Maschinenschrift:
Entschuldigen Sie, daß ich nicht mehr schicke, aber der Anfang ist immer schwer, und dies ist alles, was ich in der Tasche habe. Halten Sie mich auf dem laufenden, wenn nötig, und ich werde mein möglichstes tun.
Das war alles. Zu glauben, daß Julius de Coster sich über das, was Popinga getan hatte, nicht einmal überrascht zeigte! Zu glauben, daß überhaupt niemand überrascht war und daß man, um seinen Fall zu beurteilen, nur ein völlig nichtssagendes Wort fand: Paranoiker!
Das mußte man ihr, Mama, schon lassen, daß sie ein besseres Wort gefunden hatte: Gedächtnisschwund!
10
Wie Kees das Hemd wechselt,
während die Polizei und der Zufall
unter Mißachtung der Spielregeln ein
hinterhältiges Komplott schmieden
Er war nicht entmutigt, nein. Den Gefallen würde er den Herren nicht tun. Aber wenn er eine Zeitung aufschlug oder die in den Kiosken ausliegenden überflog, konnte er ein bitteres Lächeln nicht unterdrücken.
Man hielt ihm nichts zugute, weder den Mut, dieses Spiel allein gegen alle zu spielen, noch den Umstand, daß gewisse Dinge des täglichen Lebens in einem Fall wie dem seinen ungeheuer kompliziert werden können.
Zum Beispiel hatte er, als er zum ersten Male das Hemd wechseln mußte – in den Toiletten eines Cafés, einem Ort, der in seinem unsteten Leben eine wichtige Rolle spielte –, sich des schmutzigen Hemdes dadurch entledigt, daß er damit hinausgegangen war und es dann in einem Pissoir fallen ließ.
So weit so gut! Aber da wäre er um ein Haar geschnappt worden! Ein Polizist hatte das Hemd zu Boden fallen sehen und hatte, während Kees wegging, seinerseits das Pissoir betreten, so daß Popinga sich nur noch laufend retten konnte!
Als er dann zum zweiten Male das Hemd wechseln mußte, hatte er es vorgezogen, das alte in die Seine zu werfen, aber es ist viel schwieriger, als man glaubt, eine Stelle zu finden, wo man das machen kann, ohne gesehen zu werden. Immer erblickt man im letzten Moment einen Angler, einen Clochard, ein Liebespaar oder eine Dame, die ihren Hund ausführt…
Wer hatte auch nur eine Ahnung von diesen kleinen Problemen seines Lebens? Die Zeitungen jedenfalls nicht! Er hatte ihnen nicht nur Material geliefert, sondern auch ein kostenloses Manuskript. Dennoch gab es dort keinen einzigen, der etwas Sympathie für ihn durchblicken ließ.
Er verlangte ja nicht, daß man ihm öffentlich Erfolg für seine Sache wünschen sollte. Er verlangte auch nicht jeden Tag für sich zwei Spalten auf der ersten Seite. Aber er kannte sich aus. Es gibt eine Art, solche Begebenheiten aufzumachen, die den Helden der Geschichte entweder sympathisch oder unsympathisch erscheinen läßt, und zumal in Frankreich wirken die Helden in den »Vermischten Nachrichten« fast immer sympathisch.
Warum galt das nicht für ihn? Mußte man darin eine Einflußnahme von Kommissar Lucas sehen?
Er hatte niemanden bestohlen, so daß die braven Bürger darüber beruhigt sein konnten. Wenn
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