Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann, der den Zügen nachsah

Der Mann, der den Zügen nachsah

Titel: Der Mann, der den Zügen nachsah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
Vom Netzwerk:
Fersen sein? Hunderte! Tausende!
    Das hinderte ihn aber nicht, sein Glas Cognac zu trinken
    und mit völligem Gleichmut in den Regen hinauszublicken. Sollten sie doch suchen! Sollten sie doch alle Passanten scharf beobachten! Ein einzelner Mann ist immer stärker als eine Menge, wenn er nur seinen kühlen Kopf behält. Und das tat Popinga.
      Er hatte nur einen Fehler gemacht: nicht von Anfang an jedermann als Feind betrachtet zu haben. Daher eben nahm man ihn nicht ernst. Man hatte keine Angst vor ihm. Und das mit Recht, wenn man ihn nicht gar als eine komische Figur behandelte!
    Paranoiker!
      Und wenn schon? Was bewies das? Hinderte es ihn etwa, ganz Paris zum Narren zu halten, indem er selbst gemütlich in einer Brasserie im Warmen saß, vor sich ein zweites Glas Cognac? Und hinderte es ihn zu tun, was er wollte, seine eigenen Entscheidungen zu treffen, sich noch heute etwas Ungeheuerliches vorzunehmen, etwas, das sie alle, wie sie da waren, erzittern lassen würde, einschließlich der Autodiebe, der Straßenmädchen und der Zuhälter um Louis?
    Aber er wußte noch nicht, was. Er hatte Zeit. Besser, sich nicht zu übereilen, auf eine Inspiration zu warten und inzwischen die Leute zu betrachten, die auf der Straße vorbeigingen, immer im Gänsemarsch, stumpfsinnig wie eine Herde. Manche setzten sich in Trab, als ob sie das irgendwie weiterbrächte. Und ein Polizist in Pelerine, der, feierlich wie ein Papst und von seiner Wichtigkeit überzeugt, sein Pfeifchen und seinen weißen Stab betätigte. Hätte er nicht mehr Intelligenz beweisen können, wenn er, statt diese Schau abzuziehen, hereingekommen wäre und Popinga nach seinem Ausweis gefragt hätte?
      Dann wäre es mit einemmal zu Ende. Dann gäbe es keinen Fall Popinga mehr. Louis und die anderen würden nicht mehr gebraucht und auch Kommissar Lucas nicht, der sich wohl für ganz besonders scharfsinnig hielt!
    Daß es mit dessen Scharfsinn nicht weit her war, ergab
    sich schon daraus, daß Kees, ohne besondere Informationen, den Schlag schon mehrere Tage vorausgeahnt und den Mut gehabt hatte, allein zu schlafen!
    Wer weiß? Vielleicht würde er jetzt nicht mehr allein
    schlafen. Aber auf jeden Fall würden seine Bettgenossinnen nichts mehr davon erzählen können…
      Das Blut stieg ihm zu Kopf. Noch einmal betrachtete er sich im Spiegel und fragte sich, ob das wirklich soeben seine Gedanken gewesen waren. Aber warum nicht? Was hinderte ihn?
      Er wandte den Kopf, denn irgendwer sprach ihn auf englisch an, ein Mensch, der mehrere Minuten lang an einem benachbarten Tisch geschrieben hatte.
      »Pardon, Monsieur«, sagte der lächelnd, »Sie sprechen wohl nicht zufällig Englisch?«
    »Doch.«
    »Vielleicht sind Sie Engländer?«
    »Ja.«
      »Dann entschuldigen Sie, wenn ich Sie um einen Gefallen bitte. Ich bin gerade in Paris angekommen. Ich komme aus Amerika. Ich will den Kellner fragen, wieviel Marken ich auf diesen Brief kleben muß, aber er schafft es nicht, mich zu verstehen.«
      Popinga rief den Kellner, dolmetschte und sah den anderen Gast an, der sich in Danksagungen überbot und dann einen Brief frankierte, der nach New Orleans adressiert war.
      »Sie haben Glück, daß Sie Französisch sprechen!« seufzte der Unbekannte, indem er sein Schreibzeug einpackte. »Ich bin hier seit meiner Ankunft sehr unglücklich. Die Leute verstehen mich nicht einmal, wenn ich nur nach dem Weg frage. Kennen Sie Paris?«
    »Ja, ein wenig.«
      Er mußte lächeln bei dem Gedanken, daß er acht Tage lang Gelegenheit gehabt hatte, sich in allen Vierteln der Stadt umzusehen.
      »Freunde von mir haben mir eine gute Adresse gegeben, eine Bar, die von einem Amerikaner betrieben wird, wo sich alle Amerikaner von Paris treffen… Kennen Sie sie?«
      Der Mann war nicht mehr ganz jung. Er hatte schon graue Haare, rotgeäderte Wangen und eine Nase, die seinen Hang zu starken Getränken verriet.
      »Anscheinend ist es nahe bei der Oper, aber ich habe schon eine halbe Stunde vergebens gesucht.«
      Er zog einen kleinen Zettel aus der Tasche seines weiten Mantels:
    »Rue… Moment… ja, Rue de la Michodière.«
    »Die kenne ich.«
    »Ist das weit von hier?«
    »Fünf Minuten zu Fuß.«
    Der andere schien zu zögern und sagte schließlich:
      »Wären Sie wohl bereit, mit mir dort einen Aperitif zu nehmen? Seit zwei Tagen habe ich mit keinem Menschen sprechen können.«
      Und erst Popinga! Seit acht Tagen war ihm das nicht vorgekommen.
      Fünf

Weitere Kostenlose Bücher