Der Mann, der den Zügen nachsah
steckt.«
Popinga tastete sich ab, seine Kehle war auf einmal wie zugeschnürt. Seine Brieftasche war nicht mehr da, wie der Barmann vorausgesagt hatte!
»Sie haben sich also nichts dabei gedacht, wie er Ihnen, immer zum Spaß, kleine Rippenstöße versetzte? Er ist ein Spezialist. Ich kenne ihn seit zehn Jahren. Die Polizei kennt ihn auch. Er ist einer der geschicktesten Taschendiebe in ganz Europa.«
Eine Sekunde lang hatte Kees die Augen geschlossen. Dabei suchte seine Hand nach etwas in seiner Manteltasche…
Als wenn der Diebstahl seines ganzen Geldes, seines einzigen Mittels, weiterzukämpfen, nicht genug gewesen wäre, hatte der Amerikaner ihm, zweifellos durch die Form des Kästchens getäuscht, das er für eine Schmuckschatulle gehalten hatte, auch noch seinen Rasierapparat gestohlen!
Zu Tausenden hätten Menschen in Paris an diesem Tag
das Opfer eines Taschendiebs sein können. Für die meisten von ihnen, wenn nicht für alle, hätte das nur einen kleineren oder größeren Geldverlust bedeutet.
Aber da gab es einen, einen einzigen, dessen zwölfhundert Francs und Rasierapparat sozusagen die einzige Rettung waren: Kees Popinga! Seit dem Morgen schon hatte das Schicksal ihm in Form eines Zeitungsartikels eine Grimasse geschnitten.
Dann hatte er an eine Atempause geglaubt, an eine Art Erholung. Er hatte sich die Whiskies und die Würstchen gefallen lassen, auch diese Unterhaltung, als willkommene Abwechslung in seinem ewigen Selbstgespräch.
»Ich habe versäumt, Sie zu warnen. Aber zunächst gingen Sie mich ja nichts an. Und später konnte ich, wie ich Ihnen schon sagte, annehmen, Sie seien einer seiner Freunde, vielleicht ein Komplize…«
Popinga hatte für den Barmann, der sich entschuldigte, nur ein mattes Lächeln.
»Haben Sie viel verloren?«
»Nein… Nicht viel«, brachte Kees heraus mit demselben engelhaften Lächeln.
Denn wirklich hatte er weder viel noch wenig verloren! Er hatte alles verloren! Alles, was ein Mensch verlieren kann, durch Dummheit, aus Zufall, ja, durch die Bosheit dieses Zufalls, der sich das gleiche Falschspiel mit ihm erlaubte wie die Polizei oder wie Louis!
Er konnte sich nicht entschließen zu gehen. Er senkte den Kopf, denn er spürte eine Hitze hinter den Augenlidern und fürchtete, zwei Tränen könnten da hervorschießen.
Das war zuviel! Und zu dumm! Zu billig!
»Haben Sie es weit?«
Er lächelte. Lächelte jetzt wirklich. Er hatte die Kraft dazu.
»Ziemlich weit, ja…«
»Hören Sie. Ich habe Vertrauen zu Ihnen. Ich schieße Ihnen zwanzig Francs für das Taxi vor. Ich weiß nicht, ob Sie Klage erheben wollen. Aber jedenfalls, wenn man ihn endlich schnappen könnte, wäre das eine Wohltat für jedermann…«
Er nickte nur mit dem Kopf. Er hätte sich setzen mögen, nachdenken, den Kopf in die Hände nehmen und vielleicht in Lachen ausbrechen oder in Tränen. Das war nicht nur dumm: das war widerlich, und sein Gewissen sagte ihm, daß er das nicht verdient hatte.
Was hatte er denn getan? Ja, was hatte er eigentlich getan? Abgesehen von…
Abgesehen von einer kleinen Sache, gewiß, bei der er sich aber im Recht gefühlt hatte. Im übrigen hatte er nichts überlegt. Nur aus Haß gegen diese Rose… Aus einem instinktiven Haß, obwohl er ihr nichts zum Vorwurf machen konnte, hatte er an den Kommissar Lucas geschrieben und die Bande an ihn verraten…
Und verdiente das diese Vergeltung?
Er nahm die zwanzig Francs, die der Barmann ihm hinhielt. Er hob den Blick und sah nun sein Gesicht im Spiegel, durchschnitten von den Kreideinschriften, ein Gesicht, das nichts ausdrückte, weder Schmerz noch Verzweiflung, rein gar nichts, ein Gesicht ähnlich einem anderen, das er eines Tages vor zehn Jahren in Groningen gesehen hatte, das Gesicht eines Mannes, der von der Straßenbahn überfahren worden war und dem beide Beine abgetrennt worden waren… Der Verunglückte wußte noch nichts davon. Der Schmerz hatte noch nicht Zeit gehabt, sich bemerkbar zu machen. Und während Leute um ihn herum ohnmächtig wurden, sah er sie mit unsäglicher Verwunderung an, fragte sich, was ihnen wohl zustoße und was ihm selbst zugestoßen war, warum er da inmitten einer schreienden Menge am Boden lag.
»Entschuldigen Sie«, stammelte er. »Vielen Dank!«
Er öffnete die Tür. Nun mußte er sich wieder auf den Weg machen, aber das kümmerte ihn nicht, weder die Richtung, in der er ging, noch die Leute, die er im
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