Der Mann, der ins KZ einbrach
Neues liefern zu müssen. Ich war mir sicher, dass sie niemals die Frau finden würden, die ich vierundsechzig Jahre zuvor als junges Mädchen kennengelernt hatte. Ihr Bruder Ernst war nur eines von Millionen Opfern der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Ich konnte mir denken, was aus ihm geworden war; man brauchte es mir nicht zu sagen. Von Anfang an war die Suche nach Susanne ein sinnloses Unterfangen gewesen, aber eine schöne Sache, solange sie anhielt. Nun würden Rob und Patrick sich allein auf mich verlassen müssen, was die Story anging.
Das Kamerateam kam pünktlich. Ich kannte Rob noch vom letzten Mal und wurde Patrick vorgestellt. Am Telefon hatte er einen guten Eindruck gemacht, und er war zuvorkommend und besorgt, so wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Ich war froh, als ich sah, dass beide künstliche Mohnblumen trugen, das Zeichen des Gedenkens am britischen Volkstrauertag.
Sie stellten die Möbel um und bauten die Kameras so auf, dass über meine Schulter hinweg Hope Valley durch unser Panoramafenster im Bild war. Sie hatten zwei Kameras dabei, eine beträchtlich kleiner als die andere, und verwandelten unser Wohnzimmer in ein Ministudio. Ich zeigte ihnen die Schrotflinte, die mein Vater mir geschenkt hat, als ich ein Junge gewesen war, und die noch immer bei mir an der Wand hängt; außerdem Bilder von mir aus meiner Reiterzeit. Audrey servierte Tee und sorgte dafür, dass alle sich wohlfühlten.
Ich sank in den Sessel. Rob setzte sich mir gegenüber und stellte mir Fragen. Er begann das Interview mit der Libyschen Wüste. Die Kämpfe, meine Gefangenschaft und die Flucht von dem torpedierten Schiff handelten wir rasch ab. Anschließend ging es um das italienische Kriegsgefangenenlager und meine Verlegung erst nach Deutschland und dann nach E715, um an der Seite der KZ -Häftlinge aus Auschwitz III Zwangsarbeit zu leisten.
Er befragte mich über den Tausch mit Hans und meine beiden Nächte in Auschwitz-Monowitz. Dann erzählte ich die Geschichte von Ernst und den eingeschmuggelten Zigaretten. Verglichen mit den früheren, mühevollen Versuchen, darüber zu sprechen, kam es mir jetzt leicht über die Lippen. Ich gelangte an das Ende der Geschichte von Ernst und den Zigaretten, und die Kameraleute machten eine Pause, um Bänder zu wechseln.
Ich blieb auf meinem Platz, das Knopflochmikrofon angesteckt, und blickte aus dem Fenster über das Tal zum Bradwell Edge. Früher hatte ich mein Pferd Ryedale unzählige Male über die Hügelkette geritten und kannte dort jeden Fußbreit. Ryedale war ein guter Hengst mit einem Stockmaß von gut ein Meter siebzig, eine Kreuzung zwischen Hannoveraner und Araber und das klügste Pferd, das ich je gekannt habe. Ich hatte sogar ein Miniatur-Shetlandpony namens Copper gekauft, damit er Gesellschaft bekam. Copper war so klein, dass er zwischen Ryedales Beinen hindurchlaufen konnte, wenn der Hengst stand. Als sie starben, hob ich ein tiefes Loch aus und begrub erst den einen, dann den anderen auf dem Feld vor dem Fenster. Als ich in die Jahre kam, gab ich das Reiten auf. Heute ist der Hügel, auf dem ich früher geritten bin, nur noch ein Teil der schönen Aussicht, der dramatisch den Wandel der Jahreszeiten wiedergibt.
An dem Tag, als die Fernsehleute in unserem Wohnzimmer umherwuselten, schien alle Farbe vom Hügel gewichen zu sein. Die Sträucher und Bäume, die dem Hang sein Muster geben, wirkten stumpf und müde. Der Herbst musste die Blätter an den Bäumen weiter unten im Tal erst noch entflammen.
Die Scheinwerfer erstrahlten, und wir konnten das Interview fortsetzen. Ich musste rasch meine Gedanken ordnen. Rob fragte mich wieder nach Ernst und was meiner Ansicht nach aus ihm geworden sei.
Meine Gedanken schweiften zurück zu den steif gefrorenen, verschneiten Leichen auf dem Todesmarsch, die gestreiften Körper, über die wir vor vierundsechzig Jahren kilometerweit hinweggestiegen waren. Ich spürte die Kälte wieder. Ich hatte nicht den Hauch eines Zweifels, dass Ernst auf ähnliche Weise gestorben war wie so viele andere. Ich wollte gerade von diesem Marsch erzählen und von den Dingen, die ich dabei gesehen hatte, als ich unterbrochen wurde.
»Wir haben ein bisschen nachgeforscht, Denis«, sagte Rob, beugte sich im Sessel vor und reichte mir etwas. »Ernst ist damals nicht gestorben.«
Offenen Mundes saß ich da, während ich zu begreifen versuchte. Wollte Rob mir etwa sagen, dass Ernst den Todesmarsch überlebt hatte? Fotos wurden mir in die
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