Der Mann, der ins KZ einbrach
Hand gedrückt. Ich tastete nach dem Monokel, das an einem roten Band um meinen Hals hing, und sah das Foto eines gut aussehenden jungen Mannes. Ich erkannte seine Züge. Sein Haar war nachgewachsen, und er war nicht mehr so dünn, wie ich ihn in Erinnerung hatte, aber er war es. Der Junge, den ich so viele Jahre lang gekannt hatte, lächelte mich an.
»Gütiger Himmel.« Mehr brachte ich nicht heraus.
Ernst hatte wider alle Wahrscheinlichkeit überlebt. Rob sagte, er hätte weitergekämpft, während viele andere starben. Er sei nach Amerika gegangen und habe sich dort ein Leben in Glück und Wohlstand aufgebaut. Er habe eine Familie gegründet und sei siebenundsiebzig Jahre alt geworden. Rob reichte mir einen Abriss von Ernsts Lebensgeschichte.
»Gütiger Himmel«, wiederholte ich. »Das ist unglaublich.«
Ich sah Bilder von ihm als Kind mit einem kleinen Mädchen. Das musste Susanne sein. Ich sah Fotos von ihm in seinen späten Jahren, auf denen er so schalkhaft aussah, wie nur ein humorvoller Mann in den Siebzigern es kann. Auf einem Foto war er neben einer attraktiven Frau mit grauem Haar und sympathischem Gesicht zu sehen. Ich war vor Aufregung so wacklig, dass man mich mit einer Feder hätte umhauen können.
Ich empfand ein Hochgefühl und gleichzeitig Melancholie. Vor sieben Jahren war Ernst gestorben. Ich fühlte mich ihm in diesem Augenblick sehr nahe und musste dennoch akzeptieren, dass wir uns nie mehr begegnen würden.
Doch mir drängte sich bereits die nächste Frage auf: Wie hatte Ernst den Todesmarsch überlebt?
20. Kapitel
D as Fernsehteam wollte mich vor dem Haus filmen, also zog ich mir einen warmen Pullunder über. Wir spielten die Szene mehrmals durch. Ich öffnete und schloss die Gartentür und wiederholte die Bewegungen, während ich aus unterschiedlichen Winkeln aufgenommen wurde. Ich fütterte Oscar und Timmy, unsere beiden Shetlandponys, mit Pfefferminzbonbons. Wir hatten sie gekauft, um zu verhindern, dass sie zur Schlachtung nach Frankreich kamen. Ich kann es nicht ertragen, Tiere leiden zu sehen. Die Aufnahmen dauerten ewig. Ich konnte es noch immer nicht fassen. Ernst hatte den Todesmarsch überlebt! Aber wie war es Rob und Patrick gelungen, seine Geschichte ans Licht zu bringen?
Noch vierundzwanzig Stunden zuvor waren sie einem Durchbruch kein Stück näher gewesen. An einem feuchten, trüben Tag waren sie nach Solihull gefahren und hielten vor einem geräumigen Haus in der Vorstadt. Sie wollten mit Andrew Warwick sprechen, dessen Eltern noch immer im Haus auf der Tixall Road wohnten. Man bat sie in die Küche. An den Schrank gelehnt, wiederholte Andrew die Geschichte seiner Zufallsbegegnung mit der Dame, von der er sicher war, dass es sich um jene Susanne handelte, nach der Rob und Patrick suchten. Um ihnen Zeit zu ersparen, fuhr Andrew sie zu dem Lokal.
Das Plume of Feathers war ein großer, komfortabler Pub mit angeschlossenem Restaurant, ein gut besuchtes Gasthaus in der City, keine Kneipe von der Sorte, wo das Personal die Stammgäste mit Namen kennt. Eine Frau hinter der Theke erinnerte sich verschwommen an eine ältere Dame, auf die die Beschreibung passte und die mit einem Freund dort zu essen pflegte. Gewöhnlich nahm sie den Tisch am Fenster, aber sie war schon länger nicht mehr gesehen worden.
Eine großartige Spur war es nicht gerade. Als der Mittag näher kam, reichte die Schlange der gut gekleideten älteren Leute, die zum Mittagessen im Pub anstanden, bis zur Tür. Die Beschreibung Susannes passte auf die meisten Frauen in der Reihe.
Rob und Patrick stellten den Gästen nacheinander die gleiche Frage, auch wenn es ihnen hoffnungslos erschien: Hatte jemand von einer älteren Dame namens Susanne gehört, die als Kind vor dem Krieg aus Deutschland geflohen war? Die ganze Sache nahm absurde Züge an. Schließlich hinterließen die Journalisten an der Theke eine Telefonnummer und traten entmutigt auf den Parkplatz hinaus. Patrick schlug vor, eine öffentliche Bibliothek zu suchen und noch einmal ins Wahlregister zu schauen. Stattdessen fuhren sie zur Tixall Road, dankten Mr. und Mrs. Warwick für ihre Hilfe und filmten das Haus. Ihr Kampfgeist war erlahmt. Der Eintrag einer Susanne James, die vor acht Jahren auf der Warwick Road gewohnt hatte, war nun die einzige verbliebene Spur.
Sie brachen wieder auf. Rob hatte Schwierigkeiten, ohne Brille die Karte zu lesen, und hielt sie auf Armeslänge vor sich. Patrick lenkte den Wagen an den Rand einer breiten, von
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