Der Mann, der ins KZ einbrach
Die Royal Navy konnte verheerende Artillerieschläge austeilen, und wenn das der Fall war, sah man besser zu, dass man sich aus dem Staub machte. Der Eröffnungsschuss war unweit der Stelle eingeschlagen, an der wir noch wenige Minuten zuvor gelagert hatten.
Normalerweise hätte ich mir gesagt: »Ein Fehlschuss ist so gut wie eine Meile Abstand«, aber das war nur die erste Granate gewesen, und einen Beschuss mit Schiffsartillerie sollte man sich lieber nicht aus der Nähe ansehen. Noch ehe der Staub sich gelegt hatte, hatte ich meinen Carrier in Bewegung gesetzt, und wir waren unterwegs. Und das war gut so, denn eine weitere britische Granate schlug in die Steilwand hinter uns ein. Wir hielten nicht an.
Der Angriff begann früh am Morgen. Die Australier stürmten von Süden gegen die Verteidigungsanlagen. Vom Hafen, in dem die Italiener Öltanks in Brand gesetzt hatten, stieg dicker schwarzer Rauch auf. Der italienische Kreuzer San Giorgio lag dort vor Anker, nachdem er von der RAF schwer beschädigt worden war. Nun schleppten die Italiener das Schiff auf den Strand und überließen es den Flammen.
Einer unserer Offiziere, Tom Bird, durchbrach mit den Carriern der S-Kompanie die Verteidigungsanlagen, erbeutete Dutzende Geschütze, machte zweitausend Gefangene und – das Beste von allem – stellte den Inhalt eines italienischen Offizierskasinos sicher. Hinter ihm kamen die Panzer, und überall erschienen weiße Fahnen. In Tobruk wurden mehr als fünfundzwanzigtausend Gefangene gemacht, aber »Electric Whiskers« war wieder nicht darunter. Er war uns erneut entwischt.
Die Italiener hatten im Hafen schwere Schäden angerichtet, aber es gab auch eine gute Neuigkeit: In den Tanks lagerten große Mengen Trinkwasser, sodass wir unseren Durst löschen konnten.
Nachdem Tobruk gefallen war, konnten wir unser Nomadendasein wieder aufnehmen. Es war um diese Zeit, dass ich einen unserer besten Offiziere kennenlernte, Second Lieutenant Mike Mosley. Unsere Bekanntschaft begann allerdings nicht gerade hoffnungsvoll. Ich lenkte einen Lkw, Mosley saß auf dem Beifahrersitz, als wir in weichen Sand gerieten und die Reifen durchdrehten. Es dauerte nicht lange, und wir steckten bis zu den Radachsen fest. So schnell kamen wir hier nicht weg. Der Lieutenant war nicht gerade begeistert.
»Haben Sie den Sand denn nicht gesehen?«, fragte er. »Was sind Sie denn für ein Fahrer, Avey? Passen Sie gefälligst auf.«
Das traf mich hart. So etwas ließ ich mir von niemandem sagen, ob Offizier oder nicht. Ich hielt mich für einen guten Fahrer, und dass dieser Rüffel von einem Lieutenant kam, den ich respektierte, machte die Sache für mich nicht leichter. Doch ich verkniff mir einen Kommentar. Während Mosley zuschaute, gruben wir den Lastwagen frei und legten die schweren Lochbleche, die wir an den Seiten mitführten, vor die Reifen, damit sie greifen konnten. Bald waren wir wieder auf der Straße.
Normalerweise fuhr ich einen Bren-Carrier. Jemand hatte bemerkt, dass ich ein passabler Mechaniker war. Die Carrier schafften fast fünfundsechzig Stundenkilometer, und trotz ihrer rasselnden Ketten und den Panzerplatten waren sie ziemlich wendig. Man steuerte sie mit vorsichtigen Bewegungen des Lenkrads. Drehte man es nach links, wurde die linke Kette gebremst, und dann schwenkte man darauf herum; drehte man das Rad nach rechts, ging es in die andere Richtung.
Wenig später befanden wir uns auf einem staubigen Hügel. Eine lange Lastwagenkolonne stand Stoßstange an Stoßstange am inneren Rand einer Straße, die an einer Felswand vorbeiführte. Auf der anderen Seite war ein steiler Abhang, bei dem einem mulmig wurde, wenn man hinunterblickte.
Mike Mosley entdeckte mich in meinem Carrier. »Fahren Sie mich bis zur Spitze der Kolonne und wieder zurück«, sagte er, während er einstieg und sich aufrecht in den Platz für den Kommandanten stellte. Offenbar wollte er von den Soldaten gesehen werden, während er vorbeifuhr, als erwartete er, dass sie ihm salutierten wie auf einer Parade. Die Stunde meiner Rache war gekommen. Ich legte den Schalter um, das Lämpchen der Zündung leuchtete auf, und ich drückte den Anlasserknopf. Der V8-Motor erwachte grollend zum Leben. Ich legte den Gang ein, und der Carrier fuhr los. Ich trat ohne Gnade aufs Gas, während Mosley sich mit starrem Blick an der Panzerung festhielt und versuchte, sein Frühstück bei sich zu behalten. Mit nur dreißig Zentimeter Spielraum auf beiden Seiten erreichten wir
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