Der Mann, der kein Mörder war
erreichen und daher wissen, ob ich diesen Brief an die richtige Adresse geschickt habe.
Mit freundlichen Grüßen
Anna Eriksson
Unter dem Brief war eine Adresse angegeben. Sebastian überlegte. Anna Eriksson. Der Herbst, bevor er in die USA gezogen war. Ihr Name sagte ihm zunächst nichts, aber das war nicht weiter verwunderlich. Es war dreißig Jahre her, und die Zahl der Frauen, die zu Unizeiten seinen Weg gekreuzt hatten, war groß. Nachdem er sein Examen mit Bestnoten abgeschlossen hatte, bot man ihm eine einjährige Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter am psychologischen Institut an. Er war mindestens zwanzig Jahre jünger gewesen als seine Kollegen und hatte sich gefühlt wie ein Hundewelpe in einem Raum mit Dinosaurierskeletten. Wenn er sich wirklich anstrengte, würde er sich unter Umständen an die Namen einiger Frauen erinnern, mit denen er geschlafen hatte, aber es war ziemlich unwahrscheinlich. Jedenfalls fiel ihm keine Anna ein. Aber vielleicht würde sich die Sache mit dem nächsten Brief klären.
Hallo,
vielen Dank für Ihre schnelle und freundliche Antwort. Bitte entschuldigen Sie, dass ich mich noch einmal melde und Ihnen weitere Umstände bereite. Ich verstehe, dass es möglicherweise ein merkwürdiges Gefühl ist, die Adresse Ihres Sohnes an wildfremde Menschen weiterzugeben, die Ihnen einfach so schreiben, aber ich MUSS wirklich mit Sebastian sprechen, sehr dringend. Es erscheint mir zwar nicht richtig, Ihnen das zu schreiben, aber ich fühle mich dazu gezwungen, damit Sie verstehen, wie wichtig es ist:
Ich bekomme ein Kind von Sebastian und muss ihn erreichen. Bitte. Wenn Sie wissen, wo er ist, lassen Sie es mich wissen. Sie werden verstehen, dass es sehr wichtig für mich ist.
Der Brief ging noch weiter, es war von einem Umzug die Rede und dass sie sich wieder melden würde, doch Sebastian kam nicht weiter. Er las wieder und wieder denselben Satz. Er hatte ein Kind. Jedenfalls möglicherweise, einen Sohn oder eine Tochter. Vielleicht war er zweimal Vater geworden. Vielleicht. Vielleicht. Diese augenblickliche Einsicht darüber, dass sein Leben ganz anders hätte verlaufen können, ließ ihn fast ohnmächtig werden. Er beugte den Kopf nach unten, zwischen die Knie, und holte tief Luft. Seine Gedanken überschlugen sich. Ein Kind. Hatte sie es abtreiben lassen? Oder war es am Leben?
Fieberhaft versuchte er sich zu erinnern, wer Anna war, und ein Gesicht zu dem Namen vor Augen zu bekommen. Doch es tauchten keine Erinnerungsbilder auf. Vielleicht fiel es ihm nur schwer, sich zu konzentrieren. Er holte erneut tief Luft, um sein visuelles Gedächtnis zu reaktivieren. Noch immer nichts. Seine widerstreitenden Gefühle von Glück und Schock wurden einen Moment lang von plötzlichem Zorn überschattet. Möglicherweise hatte er ein Kind, von dem ihm seine Mutter nie etwas erzählt hatte. Das wohlbekannte Gefühl, dass sie ihn im Stich ließ, überkam ihn erneut. Drehte ihm den Magen um. Ihm, der gerade begonnen hatte, ihr verzeihen zu wollen. Oder zumindest gehofft hatte, dass der ewige Zweikampf, den er innerlich mit ihr führte, bald ein Ende fände. Dieses Gefühl war plötzlich wie weggeblasen. Der Kampf würde immer weitergehen. Für den Rest seines Lebens, das hatte er nun begriffen.
Er musste mehr erfahren. Sich erinnern, wer Anna Eriksson war. Er stand auf und ging im Gästezimmer auf und ab. Der letzte Brief fiel ihm ein, in der Schachtel hatten doch drei Briefe gelegen. Vielleicht würde er weitere Puzzleteilchen enthalten. Er nahm ihn vom Boden der Schachtel. Die geschwungene Handschrift seiner Mutter auf der Vorderseite, für eine Sekunde wollte er den Umschlag vernichten, verschwinden und nie wieder zurückblicken. Dieses Geheimnis hinter sich lassen und es dort begraben, wo es schon so lange verwahrt worden war. Doch sein Zögern hielt nicht lange an, er musste etwas tun. Mit zitternden Händen zog Sebastian vorsichtig den letzten Brief aus dem Kuvert. Vor ihm lag die Handschrift seiner Mutter, ihr Satzbau, ihre Worte. Zunächst begriff er nicht, was dort stand, seine Gedanken drehten sich im Kreis.
Hallo, Anna,
der Grund dafür, dass ich Ihnen Sebastians Adresse in den USA nicht gegeben habe, ist nicht etwa, dass Sie eine fremde Person sind, sondern, dass wir nicht wissen, wo er wohnt, wie ich es Ihnen bereits im letzten Brief geschrieben hatte. Wir haben keinerlei Kontakt mehr zu unserem Sohn. Schon seit Jahren nicht. Sie müssen mir glauben. Es
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