Der Mann, der kein Mörder war
Gefühl, dass die reichen Männer, die in den Bars ihre Platinkreditkarten zückten, niemals würden nachvollziehen können.
Es versetzte Sebastian einen Kick, das Geschehen zu lenken, zu reagieren und zu regulieren, und schließlich, wenn er sich schlau anstellte, auf den physischen Genuss hinzusteuern. Doch Clara Lundin hatte es ihm zu leicht gemacht. So, als hätte man einen Sternekoch gebeten, ein Spiegelei zu braten. Er hatte sein Können nicht unter Beweis stellen dürfen. Es wurde langweilig. Einfach nur Sex.
Auf dem Weg zum Nachbarhaus hatte er sich für die einfühlsame Variante entschieden.
«Ich dachte, du willst jetzt vielleicht nicht allein sein …»
Sie hatte ihn hereingebeten, und sie hatten auf dem Sofa gesessen und die Weinflasche geöffnet. Er hatte sich dieselben Dinge wie beim Mittagessen noch einmal anhören müssen, nur in einer längeren und bearbeiteten Fassung, in der ihre Unzulänglichkeit als Mutter noch mehr Raum einnahm. Er hatte an den richtigen Stellen gebrummt und genickt, ihr Weinglas erneut gefüllt, weiter zugehört, hier und da Fragen rein polizeilicher Art über die Vorgehensweise bei einer Verhaftung beantwortet: womit man als Nächstes rechnen musste, was Verdachtsgrad bedeutete und so weiter. Als sie ihre Tränen zuletzt nicht mehr hatte zurückhalten können, hatte er tröstend seine Hand auf ihr Knie gelegt und sich mitfühlend an sie geschmiegt. In diesem Moment spürte er, wie ein Stoß ihren Körper durchfuhr. Ihr stilles Schluchzen verebbte, und ihr Atem veränderte sich und wurde heftiger. Sie wandte sich Sebastian zu und blickte ihm in die Augen. Bevor er überhaupt reagieren konnte, küssten sie sich.
Im Schlafzimmer nahm sie ihn dann mit völliger Hingabe entgegen. Anschließend weinte sie, küsste ihn und wollte ihn gleich noch einmal. Sie schlief mit so viel Körperkontakt wie überhaupt möglich ein.
Als er erwachte, ruhte ihr Arm noch immer auf Sebastians Brust und ihr Kopf tief in der Rundung zwischen seinem Kopf und seiner Schulter. Behutsam befreite er sich aus ihrer Umarmung und verließ das Bett. Sie wachte nicht auf. Während er sich leise anzog, betrachtete er sie. So sehr Sebastian an der Verführungsphase interessiert war, so wenig war er dazu bereit, das Beisammensein nach dem Sex unnötig in die Länge zu ziehen. Was sollte es ihm auch geben? Reine Wiederholung, ohne Spannung. Er hatte genügend Frauen nach diesen nächtlichen Abenteuern verlassen, um zu wissen, dass diese Ansicht nur in Ausnahmefällen auf Gegenseitigkeit beruhte. Bei Clara Lundin war er sich sicher, dass sie irgendeine Art der Fortsetzung erwartete. Nicht nur Frühstück und Smalltalk, sondern mehr. Etwas Richtiges. Also ging er.
Ein schlechtes Gewissen war normalerweise nicht Bestandteil seines Gefühlsregisters, doch sogar er begriff, dass Clara Lundin ein böses Erwachen bevorstand. Eigentlich hatte er schon tagsüber im Garten gespürt, wie einsam sie war, was sie später auf dem Sofa bestätigt hatte. Dadurch, wie sie ihre Lippen an seine gedrückt, wie sie ihren Körper an seinen gepresst hatte. Sie hatte geradezu verzweifelt Nähe gesucht. Auf allen Ebenen, nicht nur physisch. Nachdem sie vermutlich jahrelang angeschnauzt, ihre Gefühls- und Gedankenwelt vollständig ignoriert, sie schlimmstenfalls sogar beschimpft oder bedroht worden war, hungerte sie nun nach Zärtlichkeit und Fürsorge. Wie der Wüstensand den Regen sog sie alles in sich auf, was im Entferntesten an normale Menschlichkeit erinnerte. Seine Hand auf ihrem Knie. Körperkontakt, ein deutliches Signal dafür, dass sie begehrenswert war. Als hätte er den Staudamm ihrer Bedürfnisse geöffnet, nach Haut, nach Nähe, nach irgendjemandem.
Das war der Fehler gewesen, dachte Sebastian, als er die wenigen Schritte zu seinem Elternhaus hinüberging. Es war zu leicht gewesen, und sie war zu dankbar. Mit den meisten Gefühlen seiner weiblichen Eroberungen konnte er umgehen, aber Dankbarkeit ekelte ihn immer ein wenig an. Hass, Geringschätzung, Traurigkeit, alles war besser. Dankbarkeit hingegen machte so deutlich, dass alles nach seinen Bedingungen ablief. Das tat es zwar ohnehin, aber es war angenehmer, sich einzureden, dass die Situation in irgendeiner Weise gleichberechtigt war. Es verstärkte die Illusion. Dankbarkeit zerstörte sie. Und machte ihn zu dem Scheißkerl, der er in Wirklichkeit war.
Als er die Haustür aufschloss, war es erst 4 Uhr morgens, und er hatte keinerlei Lust, sich wieder
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