Der Mann, der kein Mörder war
einen unbekannten Mann vor ihrer Haustür stehen sah, und stammelte einige schlechte Ausflüchte. Aber Vanja stapfte ungebeten in den Flur, sie wollte die Gelegenheit nutzen, dass Lisas Eltern nicht zu Hause waren.
«Es dauert nur ein paar Minuten. Wir können uns hier unterhalten.» Vanja ging voran in die blitzsaubere Küche, die andern folgten ihr. Sebastian hielt sich im Hintergrund. Er hatte das Mädchen nur freundlich begrüßt und seither geschwiegen. Bisher hatte er sich zu Vanjas Erleichterung an ihre Abmachung gehalten. In Wahrheit konnte er gerade einfach nur nicht sprechen. Er hatte den Perlen-Jesus erblickt und war sprachlos. So etwas hatte er noch nie gesehen. Phantastisch.
«Setz dich doch.» Vanja glaubte, eine kleine Veränderung an dem Mädchen zu bemerken. Sie wirkte müder, hatte nicht mehr dieselbe defensive Glut in den Augen. Es schien, als bildeten sich erste Risse in ihrem Verteidigungswall. Vanja versuchte, so persönlich wie möglich zu klingen. Sie wollte nicht, dass Lisa ihre Worte als aggressiv empfand.
«Folgendes, Lisa. Wir haben ein Problem. Ein großes Problem. Wir
wissen
, dass Roger an dem betreffenden Freitag um 21 Uhr nicht hier war. Wir wissen, wo er stattdessen war, und wir können es beweisen.»
Täuschte sie sich, oder sackten Lisas Schultern ein wenig nach unten? Aber sie sagte nichts, noch nicht. Vanja beugte sich vor und berührte ihre Hand. Diesmal weicher.
«Du musst uns jetzt die Wahrheit erzählen. Ich habe keine Ahnung, warum du lügst. Aber du musst damit aufhören. Nicht unseretwegen, sondern deinetwegen.»
«Ich will, dass meine Eltern kommen», stieß Lisa hervor.
«Willst du das wirklich? Willst du wirklich, dass sie erfahren, warum du lügst?» Zum ersten Mal sah Vanja nun das Flackern in Lisas Augen, diese kurze Schwäche, die normalerweise die Wahrheit ankündigte.
«Roger war um fünf nach neun auf der Gustavsborgsgatan. Ich habe Videoaufnahmen davon. Die Gustavsborgsgatan liegt ziemlich weit von hier entfernt», fuhr Vanja fort. «Ich tippe mal, dass dein Freund um Viertel nach acht hier weggegangen ist. Spätestens um halb neun. Falls er überhaupt hier war.»
Sie redete nicht weiter. Bemerkte die Müdigkeit und Resignation in Lisas Augen. Alle Spuren von Trotz und jugendlicher Frechheit waren wie weggeblasen. Jetzt sah das Mädchen nur noch nervös aus. Ein nervöses Kind.
«Sie werden so wütend sein», stieß Lisa schließlich hervor. «Mama und Papa.»
«Wenn sie es denn erfahren.»
Vanja drückte die Hand des Mädchens, die immer wärmer wurde, je länger sie sprachen.
«Scheiße, scheiße, scheiße», brach es aus Lisa heraus, und diese verbotenen Worte waren der Anfang vom Ende. Die Schutzmauer war eingestürzt. Sie löste sich aus Vanjas Griff und begrub ihr Gesicht zwischen den Händen. Vanja und Sebastian vernahmen einen langen, fast erleichterten Seufzer. Geheimnisse wogen schwer, sie machten einsam.
«Er war nicht mein Freund.»
«Wie bitte?»
Lisa hob den Kopf und sprach etwas lauter.
«Er war nicht mein Freund.»
«Nicht?»
Lisa schüttelte den Kopf und wandte sich von Vanja ab. Sie sah aus dem Fenster. Ihr Blick blieb starr in der Ferne hängen. Als wünschte sie sich dorthin. Fort.
«Was war er dann? Was hattet ihr geplant?»
Lisa zuckte mit den Achseln.
«Nichts. Er war genehmigt.»
«Wie, genehmigt?»
Lisa sah Vanja müde an. Kapierte sie es denn nicht?
«Von deinen Eltern genehmigt, meinst du?»
Lisa ließ die Hände sinken und nickte.
«Ich durfte mit ihm ausgehen. Oder mit ihm allein zu Hause bleiben. Obwohl wir nie rausgingen.»
«Oder jedenfalls nicht zusammen?»
Lisa schüttelte den Kopf.
«Du hast einen anderen Freund, stimmt’s?»
Lisa nickte erneut und warf Vanja zum ersten Mal einen flehenden Blick zu. Den eines Mädchens, das ein Leben lang die perfekte Tochter spielte, eine Maske, die nicht mehr aufrechtzuerhalten war.
«Den deine Eltern nicht mögen?»
«Sie würden mich umbringen, wenn sie von ihm wüssten.»
Vanja sah erneut auf das Perlenbild. Es hatte eine neue Bedeutung angenommen. «Ich bin der Weg.» Nur nicht, wenn man sechzehn Jahre alt und in den falschen Jungen verliebt war.
«Du weißt, dass wir diesen Jungen treffen müssen? Mit ihm reden. Aber deine Eltern werden nichts davon erfahren, das versprechen wir dir.»
Lisa nickte. Sie hatte keine Lust, noch länger Widerstand zu leisten. Die Wahrheit wird dich befreien, hatte der Jugendpfleger ihrer Kirche bei jeder Gelegenheit
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