Der Mann, der kein Mörder war
vermittelte ihm ein Gefühl davon, wie er wohl gewesen war. Er war nicht weggerannt. Vielleicht war er nicht nur ein Opfer. Roger richtete sich noch mehr auf. Leo sagte etwas. Roger antwortete, und darauf folgte der erste Schubser. Roger stolperte rückwärts, Leo blieb dicht an ihm dran. Als Roger das Gleichgewicht wiedererlangte, packte Leo seinen linken Arm und zog den Jackenärmel hoch, sodass Rogers Uhr zum Vorschein kam. Anscheinend sagte Leo irgendetwas, bevor Roger versuchte, den Arm zurückzuziehen. Leo reagierte mit einem Fausthieb, mitten in Rogers Gesicht. Schnell und brutal, ohne Vorwarnung.
Torkel konnte sehen, wie das Blut über Rogers rechte Hand rann, als er sich ins Gesicht fasste. Dann schlug Leo erneut zu. Roger geriet ins Wanken und hielt sich an Leos T-Shirt fest, als er zusammensackte.
«So kam das Blut auf Leonards T-Shirt», bemerkte Billy knapp. Torkel nickte, es erklärte ihren Fund. Das blutbefleckte T-Shirt war offenbar das Startsignal für Leos Gewaltausbruch. Rasend vor Wut stürzte er sich auf Roger. Es dauerte nicht lang, bis dieser auf dem Boden lag und es Tritte auf ihn hagelte. Die Zeitangabe des Bandes zählte mechanisch weiter, während Roger in Embryonalstellung auf der Straße lag und das entgegennahm, was er in Leos Augen verdiente. Erst um 21:05 Uhr hörte Leo auf zu treten, beugte sich über Roger und riss ihm die Uhr vom Arm. Dann warf er einen letzten Blick auf den zusammengekrümmt daliegenden Jungen, setzte lächerlich langsam seinen Helm auf, als wollte er seine Überlegenheit noch einmal demonstrieren, sprang auf sein Moped und fuhr aus dem Bildausschnitt. Roger blieb noch eine Weile liegen.
Billy sah Torkel an.
«Jedenfalls hat er nicht mit seiner Freundin ‹Let’s Dance› geguckt.»
Torkel nickte. Lisa log. Aber auch Leos Aussage war falsch. Roger hatte keinen Streit angefangen, indem er Leo auf dem Moped umgestoßen hatte. Sie hatten sich nicht gestritten. Dazu gehörten Torkels Meinung nach immer noch zwei.
Torkel lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Sie konnten Leo Lundin wegen Körperverletzung und Raub einbuchten, aber nicht wegen Mordes. Jedenfalls nicht sofort. Und später wohl auch nicht, Torkel war sich da ziemlich sicher. Leo war ein Krawallmacher. Aber ein Herz herauszuschneiden? Nein, das passte nicht zu ihm. Möglicherweise in ein paar Jahren, wenn sein Leben komplett vor die Hunde ging. Aber jetzt noch nicht.
«Wohin ist Roger dann gegangen?»
«Ich weiß nicht. Aber sieh mal hier.» Billy stand auf und ging zu der Karte, die an der Wand hing. «Er geht weiter geradeaus und kommt zur Vasagatan. Dort kann er rechts oder links abbiegen. Geht er nach links, gelangt er auf den Norra Ringvägen. An dieser Kreuzung gibt es eine Kamera, aber dort taucht er nie auf.»
«Also ist er nach rechts gegangen?»
«Dann hätte er irgendwann bei einer Kamera auftauchen müssen, die hier installiert ist.» Billy deutete auf eine Stelle vor dem Sportplatz, die auf der Karte einige Dezimeter nördlich lag. In Wirklichkeit einige hundert Meter. «Aber das tut er auch nicht.»
«Also ist er vorher abgebogen.»
Billy nickte und zeigte auf eine kleinere Straße, die schräg von der Vasagatan abging.
«Vermutlich hier. Apalbyvägen. Direkt in ein Wohngebiet. Dort gibt es keine Kameras. Wir wissen nicht einmal, in welche Richtung er gegangen ist.»
«Dann überprüft alle Richtungen. Vielleicht kommt er auf einer der größeren Straßen wieder heraus. Schick die Kollegen los, sie sollen in diesem Bereich bei den Leuten klingeln und sie befragen. Irgendwer muss ihn gesehen haben. Ich will wissen, wo er hingegangen ist.»
Billy nickte, und beide Männer holten ihre Handys hervor.
Billy rief den etwas verkaterten Geburtstagsgast in der Sicherheitsfirma an und bat ihn um weitere Aufnahmen.
Torkel rief Vanja an. Wie immer ging sie schon nach dem ersten Klingeln ran.
Vanja und Sebastian verließen gerade die Palmlövska-Schule, als Torkel anrief. Torkel gab Vanja einen schnellen Überblick. Am Telefon war er gern effektiv, und das Gespräch dauerte weniger als eine Minute. Als es beendet war, wandte sich Vanja an Sebastian.
«Sie haben das Band von der Gustavsborgsgatan gesichtet. Roger war um kurz nach neun dort.»
Sebastian verarbeitete die neue Information. Vanja hatte hartnäckig behauptet, dass die sechzehnjährige Lisa Hansson auf die Frage, wo sich ihr Freund Roger in der Mordnacht aufgehalten habe, immer wieder gelogen
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