Der Mann, der kein Mörder war
betont. Sie hatte diese Worte immer wieder gegen das ständig wachsende Lügengeflecht abgewogen, in dem sie in den letzten Jahren gezwungenermaßen lebte. Aber gerade jetzt, in diesem Moment, verstand sie, dass sie die Worte anders interpretieren musste. Die Wahrheit wird dich befreien, aber deine Eltern furchtbar wütend machen. So war es im Grunde. Trotzdem war es die Wahrheit, und sie war tatsächlich befreiend.
«Was ist denn falsch an ihm? Zu alt? Kriminell? Drogen? Muslim?»
Die Frage kam von Sebastian. Vanja sah ihn an, und er machte eine entschuldigende Handbewegung. Sie nickte ihm zu, schon okay.
«Es ist nichts falsch an ihm. Er ist einfach nur nicht … all das hier.» Lisa machte eine Geste, die nicht nur das Haus umfasste, sondern die gesamte Umgebung, die gepflegten Gärten vor den Häusern entlang der ruhigen Straße. Sebastian verstand sie genau. Er selbst hätte seine Situation nicht auf dieselbe Weise analysieren und formulieren können, als er in Lisas Alter war, aber er erkannte das Gefühl wieder. Die Sicherheit, die zu einem Gefängnis geworden war. Die Fürsorge, die einen erdrückte. Die Konventionen, die einen festbanden, lähmten.
Vanja beugte sich zu ihr vor. Nahm erneut ihre Hand. Lisa ließ es zu, wollte sie spüren.
«War Roger überhaupt hier?»
Lisa nickte.
«Aber nur bis um Viertel nach acht. Bis wir sicher sein konnten, dass Mama und Papa wirklich weg waren.»
«Und wohin ist Roger dann gegangen?»
Lisa schüttelte den Kopf.
«Ich weiß es nicht.»
«Wollte er jemanden treffen?»
«Vermutlich ja. Das machte er immer.»
«Und wen?»
«Ich weiß es nicht. Roger hat nie etwas erzählt. Er hatte gern Geheimnisse.»
Sebastian beobachtete, wie Lisa und Vanja nebeneinander an dem lächerlich blankgeputzten Tisch saßen und über einen Abend sprachen, der alles enthielt, außer Roger. Die Ordnung in dieser Küche erinnerte Sebastian an sein eigenes Elternhaus, an die Häuser aller Nachbarn, die so gern mit seinen erfolgreichen Eltern befreundet gewesen waren. Es fühlte sich an, als sei er in einer Kopie seiner eigenen, beschissenen Kindheit gelandet. Er hatte immer dagegen gekämpft. Hatte die oberflächliche Wahrung der Form und Ordnung erlebt, aber nie Liebe oder Mut. Sebastian hegte immer mehr Sympathie für das Mädchen. Aus ihr konnte noch etwas werden. Einen heimlichen Geliebten im Alter von sechzehn, ihre Eltern würden noch ordentlich mit ihr zu kämpfen haben, wenn sie älter wurde. Das freute ihn.
Plötzlich hörten sie, wie die Haustür geöffnet wurde. Aus dem Flur kam ein freundliches «Lisa, wir sind wieder da!».
Reflexartig zog Lisa ihre Hand zurück und erstarrte. Vanja warf ihr blitzschnell ihre Visitenkarte hin.
«Schick mir eine SMS , wie ich deinen Freund erreiche, und wir verlieren nie wieder ein Wort darüber.»
Lisa nickte, nahm die Karte und konnte sie gerade noch rechtzeitig in ihrer Tasche verschwinden lassen, bevor Papa Ulf in der Tür stand.
«Was machen Sie hier?»
Der freundliche Tonfall aus dem Flur war verschwunden.
Vanja stand auf. Begegnete ihm mit einem etwas zu künstlichen Lächeln. Einem Lächeln, das ihm klarmachen würde, dass er zu spät gekommen war. Vanja war zufrieden. Ulf bemühte sich, seine Autorität wiederherzustellen.
«Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, dass Sie nicht in meiner Abwesenheit mit meiner Tochter sprechen. Das ist vollkommen inakzeptabel!»
«Sie haben kein Recht, das zu verlangen. Außerdem ging es lediglich um ein paar Details, die wir mit Lisa abklären mussten. Aber jetzt gehen wir ja auch schon wieder.»
Vanja drehte sich um und lächelte Lisa an, die es nicht bemerkte, da sie die Tischplatte fixierte. Sebastian stand auf. Vanja ging an den Eltern vorbei zur Tür.
«Ich glaube, dass wir Sie ab sofort nicht mehr stören müssen.»
Ulf blickte von Vanja zu seiner Tochter und wieder zu Vanja. Einige Sekunden lang war er um eine Antwort verlegen, aber dann griff er erneut zu der einzigen Drohung, die er kannte.
«Sie sollten darauf vorbereitet sein, dass ich mit Ihrem Chef rede. Damit kommen Sie nicht einfach so durch.»
Vanja machte sich nicht einmal die Mühe zu antworten und ging weiter in Richtung Tür. Plötzlich hörte sie Sebastians Stimme hinter sich. Sie klang besonders kraftvoll, so, als habe er lange auf diesen Moment gewartet.
«Aber eins sollten Sie noch wissen», sagte er und schob seinen Stuhl mit einer nahezu formvollendeten Bewegung zurück an den Küchentisch. «Ihre
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