Der Mann, der kein Mörder war
entwickelte und festigte, je mehr sie in der Lage war, ihm etwas zurückzugeben. Aber was sagte das eigentlich aus, außer, dass er ein Egoist war? Er hatte kaum daran zu denken gewagt, wie es wohl sein würde, wenn sie größer war und Forderungen stellte. Wenn aus dem Kind eine eigenständige Persönlichkeit würde. Wenn er nicht länger alles besser wüsste. Wenn sie ihn durchschaute. Er liebte sie über alles. Aber wusste sie das? Hatte er ihr das zeigen können? Er war sich nicht sicher. Lily hatte er auch geliebt. Und es ihr gesagt. Manchmal, viel zu selten.
Er fühlte sich unwohl, wenn er diese Worte aussprach. Jedenfalls wenn er sie tatsächlich so meinte. Er ging davon aus, dass sie wusste, wie sehr er sie liebte. Und er zeigte es ihr auf andere Weise. Er war nie untreu gewesen in der Zeit, in der er mit ihr zusammen war. Konnte man seine Liebe anhand von Dingen zeigen, die man nicht tat? Konnte man sie überhaupt zeigen?
Und nun stand er hier und hatte möglicherweise irgendwo einen erwachsenen Sohn oder eine Tochter. Anna Erikssons Brief hatte ihn aus der Fassung gebracht. Seither bewegte er sich wie ferngesteuert durch die Welt. Er hatte sofort beschlossen, dass er diese Frau unbedingt finden musste. Er war gezwungen, sein Kind zu finden. Aber wenn er genau darüber nachdachte, war er das wirklich? Sollte er wirklich jemanden suchen, der schon fast dreißig war und sein ganzes Leben ohne ihn verbracht hatte? Und wenn ja, was sollte er diesem Menschen sagen? Vielleicht hatte Anna ihr Kind belogen und einen anderen als Vater angegeben. Vielleicht hatte sie behauptet, dass er tot sei. Vielleicht würde er alles nur durcheinanderbringen. Für alle, aber am allermeisten für sich selbst.
Eigentlich war es Sebastian völlig egal, ob es richtig oder falsch war, in das Leben eines erwachsenen Menschen einzudringen und es auf den Kopf zu stellen. Die Frage war vielmehr, was ihm das bringen würde. Glaubte er, dass es irgendwo eine neue Sabine gab, die auf ihn wartete? Das war natürlich nicht der Fall. Niemand würde eine Hand mit Schmetterlingsring in seine legen und von der Sonne erhitzt an seiner Schulter einschlafen. Niemand würde morgens, noch warm vom Schlaf, auf ihn zurobben und fast unmerklich an ihm schnuppern. Stattdessen drohte das Risiko, dass er barsch abgewiesen wurde. Oder im besten Fall unbeholfen von einem Fremden umarmt wurde, aus dem nie mehr werden würde als ein entfernter Bekannter. Im allerbesten Fall sogar ein Freund. Davon hatte er in der Tat nicht viele. Aber das wäre eben nur der Idealfall. Was, wenn er überhaupt nicht die Chance bekam, künftig eine Rolle im Leben seines Kindes zu spielen? Würde er das verkraften? Wenn er also weiterhin an dieser egoistischen Unternehmung festhielt, musste er sicher sein, dass er selbst am meisten davon haben würde. Aber das war er nicht mehr. Vielleicht sollte er die ganze Sache einfach vergessen. Das Haus verkaufen, Västerås und den Mordfall hinter sich lassen und zurück nach Stockholm fahren.
Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, weil Vanja die Tür vom Sekretariat ein wenig zu laut hinter sich schloss und mit schnellen, zornigen Schritten auf ihn zukam.
«Ich habe eine Adresse», sagte sie, als sie an Sebastian vorbeieilte, ohne ihr Tempo zu mindern. Er folgte ihr.
«Wie viel darf hier eigentlich passieren, ohne, dass es zu einer Anzeige kommt?», fragte Vanja wutentbrannt, als sie die Türen aufstieß und auf den Schulhof stürmte. Sebastian vermutete, dass es eine höchst rhetorische Frage war, und antwortete nicht. Das war auch gar nicht nötig. Sie schimpfte bereits weiter.
«Kaum zu glauben, wie weit würden die wohl noch gehen, um den guten Ruf der Schule nicht zu beschädigen? Roger hat zehn Tage vor seinem Tod dafür gesorgt, dass einer ihrer Angestellten gefeuert wird, und sie verlieren kein Wort darüber. Ob Ragnar Groth es wohl auch vertuscht, wenn jemand ein Mädchen auf der Schultoilette vergewaltigt?»
Erneut vermutete Sebastian, dass Vanja eigentlich keine Antwort erwartete, aber er konnte ja wenigstens Interesse zeigen.
«Definitiv, wenn er der Meinung ist, dass eine Anzeige einen zu großer Schaden für die Schule bedeuten würde. Er ist ziemlich leicht zu durchschauen. Der Ruf des Gymnasiums hat immer die höchste Priorität. Irgendwie ist das ja auch verständlich; es ist das wichtigste Wettbewerbsargument.»
«Also ist dieses Gerede davon, dass es hier kein Mobbing gibt, auch blanker Unsinn?»
«Natürlich. Es
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