Der Mann, der kein Mörder war
Stimme hatte nur schwer die Balance wiedergefunden. Der Vater hatte sie von seinem Krankenhausbett aus beobachtet und wie immer versucht, Ruhe auszustrahlen. Er war der Einzige in der Familie, der noch immer dazu in der Lage war, seine übliche Haltung zu bewahren.
An jenem Tag vor acht Monaten war Vanja mit dem Versprechen des Arztes über die Möglichkeiten der modernen Wissenschaft im Ohr an die Arbeit zurückgekehrt. Chemotherapie und Bestrahlung. Es bestand eine große Chance, dass der Vater den Krebs besiegte und wieder gesund würde. Sie hatte sich auf ihren Platz gegenüber von Billy gesetzt und seinem aktuellen Konzertbericht von einer Band gelauscht, deren Namen sie noch nie gehört hatte und bei der sie vermutlich sofort ausschalten würde, wenn sie im Radio lief. Eine Sekunde lang hatte er sie angesehen und innegehalten. Als hätte er bemerkt, dass etwas vorgefallen war. Er hatte sie mit seinen freundlichen Augen ruhig betrachtet. Doch der Augenblick war schnell vergangen. Denn sofort hörte sie sich etwas Sarkastisches über seinen Musikgeschmack sagen und dass er nächsten Monat zweiunddreißig werde und nicht zweiundzwanzig, falls er das vergessen habe. Und so hatten sie sich eine Weile lang ein scherzhaftes Wortgefecht geliefert. Wie sie es immer taten. In diesem Moment hatte Vanja entschieden, dass es dabei bleiben sollte. Nicht, weil sie ihm nicht traute. Billy war mehr als nur ihr Kollege. Er war auch ihr bester Freund. Aber genau in diesem Moment brauchte sie ihn als den, der er immer war. So würde es weniger wehtun. Ein Teil des Lebens konnte plötzlich enden, aber ein anderer Teil ging wie gewöhnlich weiter. Und dieses Gefühl brauchte sie.
An jenem Tag hatte sie sich besonders viel mit Billy gekabbelt.
Vanja war nun dem Bachlauf bis zum Ufer gefolgt. Die Nachmittagssonne schien auf das Wasser. Einige tapfere Boote kämpften mit dem kalten Wind. Sie holte ihr Handy heraus, verdrängte den Gedanken, dass sie eigentlich zu ihren Kollegen zurückgehen musste, und wählte stattdessen die Kurzwahl für ihre Eltern. Valdemars Krankheit hatte die Mutter überraschend schwer getroffen. Eigentlich hätte Vanja selbst die ganze Zeit weinen, schreien und sich klein und machtlos fühlen können angesichts des Gedankens, dass Valdemar sie verlassen könnte. Aber diese Rolle war bereits vergeben. Normalerweise war es Vanja so auch lieber. Die Familiendynamik war gefestigt: die Mutter gefühlsgeladen, die Tochter eher rational und beherrscht wie ihr Vater. Letztes Jahr hatte Vanja zum ersten Mal gemerkt, dass es Momente gab, in denen sie sich wünschte, die Rollen zu tauschen. Und sei es nur für ein paar Sekunden. Plötzlich hatte sie das Gefühl, an einem Abgrund zu balancieren, dessen Tiefe sie nicht kannte. Und derjenige, der immer da gewesen war, um aufzupassen, dass sie nicht abstürzte, war plötzlich auf dem Weg, sie zu verlassen – für immer. Oder vielleicht doch nicht?
Die Medizin hatte Hoffnung in die Waagschale geworfen. Er würde mit großer Wahrscheinlichkeit durchkommen. Vanja lächelte vor sich hin. Sah über das glitzernde Wasser und ließ sich von einem Glücksgefühl erfassen.
«Hallo, Mama.»
«Hast du es schon gehört?»
«Ja, er hat eben gerade angerufen. Das ist großartig.»
«Ja, ich kann es kaum glauben. Er ist auf dem Weg nach Hause.»
Vanja hörte, dass ihre Mutter mit den Tränen kämpfte. Freudentränen. Die hatte sie schon lange nicht mehr geweint.
«Drück ihn ganz fest von mir. Und ganz lange und sag ihm, dass ich komme, so schnell ich kann.»
«Wann denn genau?»
«Spätestens am Wochenende, hoffe ich.»
Sie beschlossen, nächste Woche zu dritt Essen zu gehen. Es fiel der Mutter schwer, den Hörer aufzulegen. Vanja, die diese langen Abschiede normalerweise anstrengend fand, genoss es. Es sprudelte nur so aus ihnen heraus, die Unruhe, die sie beide verspürt hatten, machte sich mit vielen Worten Luft. Als ob sie sich gegenseitig bestätigen müssten, dass nun alles wieder wie immer war. Das Handy piepte. Eine SMS .
«Ich liebe dich, Vanja.»
«Ich dich auch. Aber ich muss jetzt los.»
«Wirklich?»
«Ja, das weißt du doch, Mama, aber wir sehen uns bald.»
Vanja beendete das Gespräch und öffnete die Kurzmitteilung. Von Torkel. Die andere Welt forderte wieder ihre Aufmerksamkeit.
«Wo steckst du? Ursula ist auf dem Weg hierher.»
Eine schnelle Antwort.
«Ich komme.»
Sie überlegte, einen Smiley einzufügen, entschied sich jedoch dagegen.
B eatrice
Weitere Kostenlose Bücher