Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte
Ankunft am Heiligabend.
„Sie waren recht oft im früheren Ostblock“, hielt mir der ju nge Beamte vor.
„Ist das eine Frage oder eine Feststellung?“
„Was haben Sie denn in Uganda gemacht?“
Ich hatte mir auf dem Flug hierher, wie Juri es mir geraten ha tte, jeden Stempel in diesem Pass eingeprägt, das jeweilige Datum, auf welcher Seite des Passes er war, und mir Geschichten dazu einfallen lassen: Geschäftsreisen, Familienbesuche, Urlaubsreisen. In meinem eigenen Pass, der in einem Kästchen in einer Schublade im Schreibtisch in der Bibliothek meines Hauses lag, waren ähnlich viele Stempel wie in diesem hier, mindestens 50, höchstens 70, und zu den wenigsten hätte ich etwas Konkretes sagen können, schon gar nicht das genaue Datum. Deshalb schien es mir im Falle dieses falschen Passes gerade verdächtig, mit zu viel Detailwissen aufzuwarten. Wichtig war es, zu wissen, wann ungefähr der Vorbesitzer sich wo aufgehalten hatte. An einen Stempel aus Uganda in diesem Pass konnte ich mich nicht erinnern. Wahrscheinlich war das der verwischte hellrote. Ich hatte Ungarn entziffert und mir die Jahreszahl 1982 eingebildet.
„Uganda, tja, also, das ist lange her.“
Ich grinste lässig, aber kam mir verkrampft dabei vor.
„Ich dachte, ich hätte als Bunde sbürger Reisefreiheit, aber na gut. Wollen Sie wissen, warum ich dort war oder was ich dort gemacht habe?“
Er sah mich mit ausdruckslosem Gesicht an, klappte den Pass zu, behielt ihn in der Hand und stand auf.
„Würden Sie bitte mal einen Moment hier warten.“
Ich empfand diesen Augenblick so wie die erste Sekunde meiner Entführung am Heiligabend vor meiner Grundstückseinfahrt: Man wird unvermittelt aus der Normalität gerissen und begreift, dass sich etwas geä ndert hat, dass man alle Pläne, die man für die nächsten Stunde, Tage und Wochen im Kopf hatte, nie würde umsetzen können, weil andere Leute entschieden hatten, einem ihre Pläne aufzuzwingen. Ich hatte mich so im Recht gefühlt auf dem Flug von Alma-Ata hierher als jemand, der sich aus übelster Lage selbst befreit und sein Leben zurückerobert hatte, als Opfer, das Respekt und Anteilnahme verdiente und auf das nun endlich nicht mehr eingeprügelt werden würde. Ich stand nicht mehr abseits von Recht und Gesetz, so wie in Kasachstan, war kein unschuldig Verfolgter mehr, musste mich nicht länger verstecken, sondern kehrte in den Schoß meiner Gesellschaft zurück und genoss wieder ihren Schutz und ihre Geborgenheit.
Nun, da der Grenzpolizist mir den Rücken zuwandte, hatte ich das Gefühl, meine Heimat würde sich von mir abwenden.
Ich hatte versucht, mit einem falschen Pass einzureisen!
Eine Lappalie nach allem, was mir angetan worden war, und g erechtfertigt, denn wie hätte ich anders nach Hause kommen sollen! Aber hier, verdammt noch mal, zurück auf bundesdeutschem Boden, hätte ich umgehend die Behörden aufsuchen und meine Geschichte erzählen müssen.
Ich belog mich damit, dass ich daran nicht g edacht hatte in meiner Euphorie darüber, dass meine Flucht gelungen war, aber die Wahrheit lautete: Ich hatte nur keine Lust gehabt auf neuerliche Prozeduren mit ungewissem Ausgang. Ich hatte die deutschen Behörden durchaus täuschen wollen, um diese letzte, mir so lächerlich niedrig scheinende Hürde vor dem Ziel rasch zu überwinden. Was war außerdem dabei? Ich schadete doch niemandem damit! Aber nun war ich ausgerechnet an dieser letzten Hürde gescheitert.
Der Grenzpolizist verschwand hinter einem grauen Vo rhang. Und ich zögerte keine Sekunde. Ich stolperte über den Koffer und die leichte Reisetasche, die ich links getragen beziehungsweise umgehängt, daher links von mir abgestellt und mir damit den Weg verbaut hatte, strauchelte, aber fing mich, umrundete das Abfertigungshäuschen und rannte los.
Es ging durch einen schmalen Gang mit weißen Wä nden, der zwei mal abknickte, einmal nach links, dann nach rechts, und schon war ich in der Ankunftshalle des Frankfurter Flughafens. Schräg vor mir lag der Ausgang, zwei Taxis standen davor und Reisende strömten durch die Glastüren herein und heraus. Etwa 50 Meter links von mir sah ich einen Polizisten, der gerade in sein Funkgerät sprach und zu mir herüber sah. Ich rannte los in Richtung Ausgang, und sofort rannte auch er los und versuchte mir den Weg abzuschneiden.
Noch ist es nicht zu spät, sich zu stellen, lockte eine Sti mme in mir. Es war wohl der alte Frank Fercher, der auf Polizei, Gesetz und Gerechtigkeit
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