Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte
Erst jetzt fiel mir auf, wie sehr ich das Gefühl totaler Freiheit für ein zufriedenes Leben brauchte. Auch wenn ich nicht vorhatte, aufzubrechen, so brauchte ich doch die Gewissheit, es jederzeit zu können. Ich musste zumindest aus dieser Wohnung heraus, auf der Stelle.
Ich holte mir eine Jacke aus dem Schlafzimmerschrank. Melanie hatte eine Schrankhälfte voll persönlichen Besitzes für mich au fbewahrt, neben Unterwäsche, Hosen, Hemden, Jacken und Schuhen auch meinen alten Fußball, ein paar Bücher und Reiseandenken, was mir einen gewissen Rückhalt gab. Es war schön, wieder eigene Sachen anzuhaben. Ich hatte mich monatelang danach gesehnt, aber Teil meiner Identität war es nicht, wie ich jetzt verwundert feststellte. Nichtsdestoweniger freute ich mich darauf, die Klamotten, in denen ich hier angekommen war, dorthin zu stopfen, wo sie hingehörten: in einen Altkleidercontainer. Das sollte die Handlung sein, mit der ich symbolisch mein neues Leben beginnen wollte.
Draußen war es warm, beinahe sommerlich heiß, und ich brauc hte die Jacke nicht, aber ich hatte sie auch nicht zum Anziehen mitgenommen, sondern um sie über dem rechten Arm zu tragen für den Fall, dass mir Bekannte begegneten, denn mir stand der Sinn weder nach Erklärungen noch nach Ausreden. In der linken Hand trug ich in einer Plastiktüte die zu entsorgenden Altkleider.
Lange musste ich nicht suchen. Neben einem Supermarkt fand ich zwei der orangen Container, warf die Tüte in den Spalt, b etätigte den Hebel, und weg war alles, was mich noch an die schlimmsten Monate meines Lebens erinnert hatte. Schweiß und Dreck von unterwegs hatte ich mir unter der Dusche vom Körper gewaschen. Ich fing neu an, bildete ich mir frohgemut ein. Wohin nun?
Melanie hatte mir 50 Mark Taschengeld zugesteckt, und zwei Mark davon investierte ich im Supermarkt in eine Tageszeitung. Auf e iner Parkbank in der Sonne sitzend, blätterte ich die Stellenanzeigen durch. Unter den seriösen Angeboten fand ich nur ein einziges, das mir vielversprechend erschien: Ein Getränkemark stand zur Verpachtung. Das Geschäft konnte auf Melanies Namen laufen, und ich erledigte die Arbeit im Hintergrund. Ich faltete die Seite mit dem Angebot zusammen, steckte sie ein und warf die Zeitung in einen Papierkorb. Wohin nun?
Es zog mich in eine bestimmte Richtung. Nach einer halben Stu nde Fußweg stand ich vor dem schmiedeeisernen Tor, an dem ich am Abend vor Weihnachten zusammengebrochen war und meine Freiheit verloren hatte. Ich schaute die Anfahrt zu unserem Haus entlang, das man nicht sah, weil der Kiesweg nach 20 Metern scharf nach rechts abknickte, um über den Felsen der Schönen Aussicht entlang zu führen. Den Ausblick über die Stadt von dort hätte ich zu gerne noch einmal genossen. Wäre zu gern noch einmal in unserem See geschwommen, hätte liebend gern vor unserem Gästehaus in der Sonne ausgeruht. Mein alter Fußball, den ich noch hatte, war für mich früher eine Art heiliger Gegenstand gewesen, ein Symbol meiner Jugend. Mit ihm hatten wir im letzten Schuljahr eine Meisterschaft gewonnen. Nach diesem Spiel hatte ich Melanie kennengelernt, die ersten waren zugleich unsere schönsten Tage gewesen. Damals war ich wirklich glücklich gewesen, hatte ich immer gemeint.
Jetzt erst erkannte ich, wie unwichtig mir Gegenstände wie di eser Fußball waren, wie bedeutungslos – am meisten fehlte mir unser Haus, unser Grundstück. Ich kam mir vor wie ein verpflanzter Baum in dieser Wohnung in der Parkstraße 8, ein Baum der dort nicht Wurzeln schlagen konnte und verdorren musste. Ich gehörte hierher, in dieses Hause in der Schönen Aussicht 17, und so lange ich hier nicht wieder lebte, war ich nicht zu Hause angekommen. Es musste einen Weg geben, wenigstens unser Anwesen zurückzubekommen. Ich war entschlossen, mit Hermann zu reden. Ich hörte ihn sagen: „Du musst zur Polizei gehen!“
Ich verschob das Gespräch mit ihm auf später. Wohin nun?
Ziellos ging ich durch die Stadt, mied das Zentrum und allzu große Menschenansammlungen, ließ meine Gedanken springen. Ein Abschnitt meines Lebens war zu Ende, aber ein Neuanfang nicht wirklich in Sicht. Was verhinderte ihn? Die Ungewissheit meiner Lage und meine Behinderung. Ich musste etwas unternehmen, musste mich umhören, musste Informationen sammeln, aber durfte nicht selbst in Erscheinung treten.
Da fiel mir eine Möglichkeit ein.
Ich beschleunigte meinen Schritt und fand ein paar hundert Meter weiter, was ich gesucht
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