Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte
dass es gerade so kommen würde wie es kam, dass Honkes und seine Helfer am Tag vor Heiligabend auf dem öffentlichen Bü rgersteig das Rolltor zu meinem Grundstück blockieren würden, ich so blöd wäre auszusteigen, statt zum Autotelefon zu greifen, dass man mich mit einem Betäubungsgewehr niederschießen würde zu einer Stunde, in der es noch nicht mal richtig dunkel war, mich in den Kofferraum meines eigenen Wagens stecken und mit mir wegfahren würde, dass ich so mir nichts dir nichts aus meiner Welt verschwinden würde, spurlos für meine Familie und ohne Orientierung für mich selbst – dieser Verlauf war nicht vorherzusehen gewesen, obwohl er doch auch so nahe gelegen war.
Plötzlich Licht über mir, der Film geht weiter. Gesichter über mir. Fremde Stimmen, die ich in ihrer Bedeutung verstehe, obwohl ich die Worte nicht kenne. Sauerei, sagen sie, Gestank, widerlich. Alles an mir klebt, fühlte sich kalt und nass an. Meine Hände und Füße gefühllos. Stechender Schmerz am linken hinteren Oberschenkel. Ein Wunder, dass er nicht erstickt ist, sagen sie. Sie diskutieren, wer mich zu reinigen hat. Ob sie mir andere Kleidung anziehen sollten. Filmriss.
Wieder blinzeln auf blauen Himmel hinter schwarzem Kofferraumdeckel. Blauer Himmel? War nicht eben noch Nacht und Schneesturm? Gesichter. Alles klebt, immer noch klebt alles kalt und feucht an mir. Der hat es nicht besser verdient, sagt der liebe Honki. Sagt er das auf Deutsch? Keine Ahnung, ich verstehe es aber doch. Sagt er es überhaupt, oder will ich dergleichen nur verstehen? Jetzt bitte keinen Filmriss!
Hatte ich doch einen? Ich stehe plötzlich auf festem Boden, zumindest sind meine Füße irgendwo unter mir. Hände halten meine Arme. Sie ekeln sich vor mir. Ich mich auch vor euch, denke ich, Scheißkerle, und reiße mich los. Ich laufe weg, aber komisch, ich komme nicht vom Fleck, die stehen um mich herum und lachen, derweil ich doch eigentlich renne. Wald, wir sind im Wald. Ich muss doch zu meiner Familie! Heute ist Weihnachten, mein schöner großer armer Tannenbaum. Geht es den neuen Lichterketten gut? Ein Waldweg. Gefrorener Boden unter mir. Schnee? Ich muss hier weg. Lachende Gesichter. Filmriss.
Das erste wirkliche Erwachen nach einer endlosen Serie von Filmrissen und einer Art schlafwandlerischen Bewusstseins war ein Sieg des Schmerzes über das Betäubungsmittel in meinen Geweben. Ich lag verkrümmt, unterkühlt und von Krämpfen gepeinigt im Kofferraum, und der Wagen stand mit laufendem Motor. Ein schmaler Streifen Licht fiel herein und mit ihm ein beständiger Strom von Kälte. Unweit das Summen und Brausen von Autobahnverkehr.
Wir stehen auf einem Autobahnrastplatz, dac hte ich, und hob den Kopf zum Licht, um aus dem Kofferraum zu spähen. Ich sah zwei parkende Autos, einen gelben Passat und dahinter irgendeinen braunen Kleinwagen. Es war trüb, und es herrschte Tauwetter. Links war eine Baumgruppe, rechts musste die Autobahn sein. Ich sah die halslose Gestalt von Honkes mit dem Rücken zu mir an einem Baum stehen und pinkeln, er war etwa zehn Meter von meinem Standort entfernt. An dem gelben Passat lief ein Mann entlang, öffnete die Fahrertür und stieg ein. Ich begriff, dass dies vielleicht meine letzte Chance war. Ich wollte aus dem Kofferraum springen, zu diesem Mann im Passat laufen und ihn bitten, mich mitzunehmen. Wenn du ihn persönlich ansprichst, hilft er dir, das hatte ich aus eigener Erfahrung gelernt, und es erfüllte mich mit einer Woge von Hoffnung.
Ich wollte den Kofferraumdeckel mit Gewalt au fstoßen, aber in meinem Zustand wurde ein lahmes Hochdrücken daraus. Natürlich stand neben dem Heck des Mercedes einer meiner Kidnapper zur Bewachung. Er war für eine Sekunde überrascht, aber fuhr dann gleich herum und wollte den Deckel wieder zudrücken. Honkes war fertig mit seinem Geschäft, zog sich den Hosenschlitz hoch, sah zu mir herüber und begriff, was vor sich ging. Der Mann im gelben Passat war damit beschäftigt, sich anzuschnallen. Ich warf mich mit dem Oberkörper aus dem Kofferraum heraus, der Deckel fuhr mir mit der Kante im Brustwirbelbereich auf den Rücken, und ich schrie laut auf. Der Druck ließ kurz nach, ich krallte mich an der Stoßstange fest und zog meine Beine aus dem Kofferraum. Honkes rief etwas herüber, es klang wie „Aufpassen!“
Ich fiel mit den Beinen in eine Pfütze, meine Hose sog das ei skalte Wasser auf, robbte auf die Fahrspur des Rastplatzes und kam stolpernd auf die
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