Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte
nach rechts wehrte ich den Schal ab, der wieder über meine Augen geschoben werden sollte. Von links wurde sofort ein Ellenbogen in meine Rippen gerammt, ich stöhnte und krümmte mich nach vorn. Von beiden Seiten wurden meine Hände gepackt und mir auf den Rücken gedreht, das alles wieder auf offener Straße hinter nur schwach getönten Scheiben. Ich sah Passanten direkt neben uns völlig ahnungslos vorbeigehen. Handschellen klickten um meine Gelenke und wurden brutal eng eingerastet, sie schnitten mir ringsum in die Knochen. Der widerliche Schal nahm mir das Augenlicht. Handschellen schnappten nun auch um meine Fußgelenke. Ich wurde in den Fußraum gestoßen, Gesicht zum Boden, von einer Seite zur anderen ausgerichtet, mein Körper wurde zur Fußstütze.
„He, warte mal, der hat ja noch seine Uhr“, sagte einer, öffn ete den Verschluss und nahm mir damit den letzten persönlichen Gegenstand und zugleich die letzte Möglichkeit, wenigstens zeitlich die Orientierung zu bewahren. Sie breiteten eine Decke über mir aus, Füße traten mir in den Rücken und in die Waden, und über diese Druckpunkte spürte ich sie über mir sich räkeln.
„Endlich mehr Platz“, sagte einer. Sie machten es sich b equem und schoben sich meinen Körper noch einmal mit den Füßen zurecht. Einer trat mir mit dem Absatz gegen die Stelle, an der mich der Betäubungspfeil getroffen hatte. Ich schrie auf, der Absatz trat noch einmal gegen die selbe Stelle.
„Maul halten, klar!“
Ich biss mir fest auf die Oberlippe, um nicht laut zu stöhnen. Es war der Moment des inneren Zusammenbruches, des Endes aller Hoffnungen. Wo es mir überall wehtat, mein Hals brannte noch vom Brechen, meine elende Lage gefesselt im Fußraum meines eigenen Wagens, meine Handgelenke stachen in den Stahlklammern der Handschellen, die Ungewissheit über das, was diese Unmenschen mit mir vorhaben mochten, all das wurde weniger bedeutend, denn ich begriff in diesem Moment, was es hieß, ausgeliefert zu sein. Ich hatte quälenden Durst, aber ich konnte nichts unternehmen, den Durst zu stillen. Ein Leben lang Freiheit und Selbstbestimmung, tun was man tun wollte im Moment in dem man es tun wollte und ohne jemand fragen zu müssen – ich hatte, seit ich erwachsen war, nie für eine Sekunde daran gedacht, was es heißen mochte, dieser Selbstbestimmung beraubt zu sein. Ich war nicht nur gefesselt und wurde als Fußmatte missbraucht, ich hatte meine Mündigkeit verloren. Ich würde erst dann meinen Durst stillen können, wenn Honkes es mir erlaubte, und im Moment war es mir nicht mal erlaubt, ihn um Erlaubnis zu bitten.
Ich wusste nicht wohin mit der bitteren Verzweiflung, die mich durchströmte. Ich konnte mich nicht bew egen, nichts sehen, der Mund war mir verboten. Nur noch eine letzte Ausdrucksmöglichkeit hatte ich, eine letzte kleine erbärmliche Freiheit, und der ließ ich freien Lauf: Ich weinte leise in den widerlichen Schal.
Als ich meine Armbanduhr noch hatte, vor meinem Fluchtversuch auf dem Rastplatz zum Beispiel, war mir das nicht mal aufgefallen, und hätte ich sie jetzt noch gehabt, bäuchlings im Fußraum liegend und die Hände auf den Rücken gefesselt, ich hätte nichts damit anfangen können. Und doch verstärkte es meine Verzweiflung, sie nicht mehr zu besitzen. Sie war kein Symbol für irgend etwas, war kein Geschenk eines lieben Menschen gewesen, war nicht mal besonders wertvoll, aber in meiner Lage sehnte ich mich so sehr nach einem Blick auf das wohlbekannte Zifferblatt wie nach einem Schluck Wasser oder dem Ende der Schmerzen in meinen Handgelenken. Ohne die Möglichkeit, sich seine Lebenszeit einzuteilen und den Ablauf dieser Einteilung mit einer Uhr zu messen, vegetiert man wie eine Pflanze. Zwar gab es Wegmarken in diesem Einerlei des Daliegens, Schalmuffatmens und Schmerzenhabens: Ich konnte hören und am Vibrieren des Wagenbodens spüren, dass gelegentlich überholt, an Kreuzungen gebremst und abgebogen wurde. Aber es war unmöglich, mir daraus abzuleiten, wie viel Zeit verging, zumal es mir schien, dass ich gelegentlich das Bewusstsein verlor. Es mussten Stunden vergangen sein, seit wir die Grenze passiert hatten, und doch war bisher weder zum Tanken angehalten worden noch aus Gründen dringender Bedürfnisse.
Meine Situation schien mir, je länger sie dauerte, desto irre aler, bis ich endlich davon abkam zu meinen, dies sei die Fortsetzung meines Lebens unter veränderten Bedingungen. Mein Bewusstsein schien auf Reisen gegangen
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