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Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte

Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte

Titel: Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Köhler
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alle Armeen mobilisiert, die letzte Schlacht hatte begonnen. Hemmungen und Skrupel gab es in diesem Zustand nicht, nur eine katzenhafte, lauernde Umsicht und die Entschlossenheit, notfalls niederzuwalzen, was nicht zu umgehen war.
    Als erstes brauchte ich etwas anzuziehen. Ich lauschte an T üren, ich öffnete Türen: ein dunkles Büro, ein Abstellraum für Putzgeräte, ein Aufenthaltsraum, ein... – Moment mal, Aufenthaltsraum? Ich schlich zurück. In einem Aufenthaltsraum gab es doch auch Spinde, oder?
    In diesem hier nicht. Ich fand einen Tisch mit zwei Stühlen, ein paar alte Zeitungen mit kyrillischen Schriftzeichen und Bi ldern auf denen ich niemand kannte außer immer mal Boris Jelzin. Was ich suchte, war ein Datum, aber ich fand keines, zumindest keines, das ich hätte lesen können. Weiter, Mensch, nichts könnte jetzt unwichtiger sein. Ein paar leere Flaschen, Bier vor allem. An einem Wandhaken eine blaue Jacke, die nach Diesel roch. Seltsam, dieses Gefühl, dass mein Arm in einem Ärmel verschwindet, aber keine Hand unten herauskommt.
    Wieder auf den Flur, zwei weitere Türen. Wieder keine To ilette, die wird mir langsam nötiger als eine Hose, Schuhe oder der Ausgang. Statt dessen eine kleine Küche, dann eine Art Labor mit Reagenzgläsern, still dahinbrütenden Petrischalen, Erlenmeyerkolben, Bunsenbrennern, einer Reihe von Spülbecken.
    Das Wic htigste nehme ich zuletzt wahr. An der Rückseite der Tür, an deren Griff ich mit der Linken klammere, um meinem Frösteln Halt zu geben, hängen an einem Haken drei weiße Laborkittel. Weiter links, neben einem Schrank, steht ein Paar Filzpantoffeln. In die schlüpfe ich zuerst mit meinen eisigen Zehen. Raus aus der nach Diesel stinkenden blauen Jacke. Rein in den ersten Laborkittel. Abgestandenes Rasierwasser steigt mir vom Kragen aus in die Nase. Ich würge mit meiner linkischen Linken an den Knöpfen herum, schaffe es, sie zu schließen, ziehe einen zweiten Laborkittel an, würde mir zu gerne den dritten um die Hüften binden, um die Beine zu bedecken, aber einhändig kann ich keine Ärmel verknoten, also lasse ich es so und ziehe darüber noch die blaue Jacke.
    Meine Blase ist am Platzen, ich hebe meine Laborkittel und pinkle in eines der Spülbecken. Erleichterung durchdringt mich, betä ubende Müdigkeit kommt unter dem nachlassenden Druck hervor. Ich konzentriere mich, derweil mein Wasser noch läuft, auf dieses Labor. Jede Menge Chemikalien. Aber dann: ein Telefon auf einem Holztisch in der Ecke!
    Die Rettung, jubelt es in mir.
    Dann die Ernüchterung: Von wegen! Selbst wenn ich nach Deutschland durchkäme, was sollte mir das helfen? Ich war ein rechtskräftig verurteilter Vergewaltiger in diesem Land. Niemand würde kommen und mich herauspauken. Melanie wüsste über meinen Verbleib, aber würde mich für immer verachten.
    Ich musste selbst in meine Welt zurückfinden. In der Wand gege nüber war eine Art Kühlschrank eingelassen, eine altmodisch bauchige weiße Tür wölbte sich in den Raum, ein silberner Riegel auf halber Höhe, ein saugendes Schnappen, als ich daran zog.
    Weiß der Teufel, was ich erwartet hatte. Chemikalien natü rlich. Vielleicht, wie in einem schlechten Cartoon, ein paar Bierdosen, die hier heimlich gehortet und zwischen zwei Experimenten aus Laborgefäßen getrunken wurden. Was ich ganz sicher nicht erwartet hatte, war, eine bläulich verfärbte Hand mit glitzernden Eiskristallen auf den Fingernägeln zu finden.
    Ich stand vor der Leiche meines Armes.
    Wässrig glänzte ein Quadratzentimeter Fleisch aus der wulstigen Haut, man hatte der Wucherung am Daumenansatz eine Probe entnommen, wohl war es das, was in den Petrischalen keimte. Als dunkler Fleck zeichnete sich die Bissstelle ab, die Wucherung war in Form des Zahnkranzes durch die neue Haut gebrochen. Die Fingernägel gehören geschnitten, dachte ich gedehnt, und betrachtete unwillkürlich die Nägel meiner linken Hand. Ich dachte: Die haben mir nicht den Arm abgenommen, um mich zu retten, sondern mich vom Arm abgenommen, um die Wucherung für weitere Forschungen zu retten.
    Nichts wie raus hier! Ich warf die Eisschranktür in den Ri egel und schlurfte in den fremden Pantoffeln zur Tür. Ich kann ihn doch nicht einfach so zurücklassen, dachte ich, er gehört doch zu mir. Raus auf den Gang, den Gang entlang, zügig. Genug Türen geöffnet. Der Gang knickte ab, dahinter endlich eine Treppe. Es schien mir, dass in diesem Treppenhaus alles zusammenlief, und tatsächlich stand

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