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Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte

Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte

Titel: Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Köhler
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ich am Ende des zweiten Absatzes vor dem Haupteingang, einer ebenso schmucklosen wie wuchtigen Holztür, die natürlich versperrt war. Ein solches Haus hat Hinterausgänge, dachte ich.
    Ich kann mich nur wundern, wie zielorientiert und unerschütte rbar ich in dieser Situation vorging. Keine Enttäuschung, wenn etwas schiefging, keine langfristigen Gedanken, immer nur die nächst nötige Problemlösung vor Augen. Was ich machen würde, wäre ich aus dem Gebäude draußen, spielte erst eine Rolle, als ich eine Hintertür fand, die von innen ohne Schlüssel zu entriegeln war. Riegel zurück, Türdrücker betätigt, und es war so weit.
    Ich stand im Freien – in einem Hinterhof. Eiskalt wehte mir ein Wind um die nackten Beine, der sich wie März anfühlte, vielleicht April, ke inesfalls Februar. Eine Mondlandschaft aus Schlaglöchern vor mir, umfriedet von einer Backsteinmauer und einem niedergelumpten Maschendrahtzaun, die gegenüber des Hinterausgangs rechtwinklig aufeinandertrafen. Wie ferngesteuert lief ich auf eine eingedrückte Stelle des Zaunes zu, stieg darüber und gelangte in eine Freiheit, mit der ich nichts anfangen konnte.
    Orientierung slos tappte ich durch die Nacht über das Gelände. Keine Straßenlaterne weit und breit, ein bisschen Licht kam nur von einem trüb umwölkten Halbmond. Ich befand mich in einem Industriegebiet, von dem ich nicht hätte sagen können, ob es aufgegeben oder noch in Betrieb war. Die Schlote und Hallen waren ähnlich verschmutzt, verfallen und verlassen wie der Komplex, aus dem ich ausgebrochen war. Gewohnt wurde hier nirgends. Wer weiß wo die Menschen nach Feierabend hinfuhren.
    Ich folgte einer schm alen, von Frost und Überlastung zerfressenen Asphaltstraße, die um den Hinterhof herum zum Haupteingang führte, neben dem ein paar verwaiste Parkflächen markiert waren. Ich war tatsächlich unbewacht. Und außerstande zu fliehen. Selbst wenn hier ein Auto gewesen wäre und ich gewusst hätte, wie man es kurzschließt, ohne rechten Arm hätte ich es nicht fahren können. Keine Straßenschilder, nicht mal kyrillische. Keine Ahnung, wo Westen war. Ich konnte nicht einfach die Straße entlang in Pantoffeln und mit nackten Beinen, frisch operiert, und durch die Wälder konnte ich schon gar nicht.
    Eine Nummer ging mir durch den Kopf, keine Ahnung, wo sie he rkam. Diese Nummer und mein toter Arm und das Telefon auf dem Holztischchen. Ich wollte nicht wieder hinein, verweilte zeitlos im Märzwind. Ein Gefühl war das, wie ich es nicht kannte, ganz tief in mir drin habe ich es bewahrt. Es war so unbegreiflich abgekoppelt von meiner Situation: Ich bin ganz da, hier an diesem Fleck, und empfinde das frei von dem was war und sein wird.
    Wieder diese lange Reihe von Zahlen. Ein Satz fiel mir ein: Du hast mich in deinem Land...
    Und dann, wie herangeweht vom kühlen Wind, totale Klarheit. Wenn das nicht nur dahergesagt gewesen war, konnte ich doch noch hoffen. Ein Plan fügte sich, der über die nächstliegende Aktion hinausging. Es gab zwei Möglichkeiten, und beide würden mich befreien. Die Zeit der Unmündigkeit war zu Ende. Ich folgte der Straße zum Zaun, stieg darüber in den Hof zurück, drückte die Hintertür auf, zog sie hinter mir zu, musste kurz ausruhen und gegen Bewusstlosigkeit ringen. Zur Treppe, die Treppe wieder hinauf, Stufe für Stufe wie damals Schritt für Schritt auf den Everest, ich war so unsagbar müde, den Gang entlang, in das Labor.
    Bloß nicht hinsetzen, du stehst nie mehr auf!
    Zum Telefon. Ich drehte die lange Nummer in die Scheibe, die ich zu Hause so oft getippt hatte, dass sie in mir verewigt war, eingeschliffen wie Fahrrad fahren oder schwimmen.
    Wenn keiner abhob, dann würde ich an Chemikalien zusammensa ufen, was in diesem Labor zu finden war, mir meinen Arm aus dem Eisfach holen, mir ein scharfes Instrument suchen, damit den Treppen bis zum obersten Stockwerk folgen, ein Fenster öffnen, mir beide Halsschlagadern aufschlitzen und mit meinem Arm im Arm hinausspringen. Mehr als drei Leben hatte hoffentlich nicht einmal ich.
    Es war nicht besetzt, das Telefon am anderen Ende läutete. Es wurde abgehoben.
    „Pastor Justus Näb, Pfarrei Kronsweide.“
    Ich atmete tief aus und heftig ein, rang gegen einen Anfall von Schwärze vor den Augen, ve rschluckte mich, musste husten.
    „Hallo“, tönte es aus dem Hörer, „hier Pastor Justus Näb, Pfa rrei Kronsweide. Wer ist denn dort so spät noch?“
    „Hier Frank Fercher“, würgte ich hervor, hustete

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