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Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte

Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte

Titel: Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Köhler
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sollte...“
    „...dann kommst du zurück ins Gefängnis und bestimmt nie mehr wieder raus. Wird gar nicht gefragt nach Schuld oder Unschuld. Und sie packen dich, glaub mir, sobald du in einem Bus oder Zug steigst. Solche Fahrzeuge sind immer noch voll von Leute, die schauen und verpfeifen.“
    „Sie haben doch mein Bündel gut verwahrt, in einem Eisfach, meine ich? Ich weiß nicht, ob Sie reingeschaut haben?“
    „Ich hab es gleich aufgemacht, als ich dich hier bei Lina abgegeben habe.“
    „Sie müssen ganz schön erschrocken sein. Wissen Sie, der Arm, da ist ein dunkler Fleck am Han dgelenk, eine Bisswunde war das, mit der alles anfing. Und an der Stelle, an der sie ist, könnte sie unmöglich sein, wenn ich auf der Frau gelegen und es getan hätte, verstehen Sie? Die haben meinen Arm an ihrem Mund gezerrt, damit es so aussieht.“
    Der Pastor schaute auf seine Schuhe. Er wirkte verlegen.
    „Und du meinst, damit kannst du freigesprochen werden aus deiner Lage? Wenn Peter Honkes gewollt hat, dass du im Gefängnis sitzt, dann langt Situation, und Gegenbeweis hilft gar nichts.“
    Mir wurde mulmig.
    „Aber Sie haben den Arm doch gut aufbewahrt, oder? Kalt genug, dass er bis jetzt gehalten hat?“
    „Wir haben keine Gefriertruhen hier, auch keine Kühlschränke. Und draußen ist es inzwischen zu warm.“
    „Aber was haben Sie dann mit dem Arm gemacht?“
    „Ihn bestattet, sehr feierlich. Hat eigenes Grab auf unserem Friedhof hinter der Kirche.“
     
    Es sollte noch eine Weile dauern, bis ich mein Grab besuchen konnte. Ich war so abgemagert und geschwächt, und die Genesung verlief so zögerlich wie nie zuvor in meinem Leben eine Erh olungsphase. Lina saß die meiste Zeit eines jeden Tages an meinem Bett, las mir stundenlang aus einer deutschen Bibel vor, die der Pastor uns hereingereicht hatte, las so ohne jedes Verständnis und gebrochen, dass ich kaum etwas verstand. Sie fütterte mich mit Fleisch, Kartoffeln, Eiern, Äpfeln, Butterbroten. Sie half mir mit dem Nachttopf und stützte mich, als es endlich so weit war, dass ich kurz aufstehen konnte, um die Toilette aufzusuchen.
    Ich begann, diesen Teil an ihr zu schätzen: ihre Güte und G eduld, ihre Selbstaufopferung, ihren Vorsatz, alles, was sie ihrem Sohn an Untaten mir gegenüber zuschrieb, durch ihre Pflege wieder gutzumachen. Gelegentlich, wenn es ihr selbst nicht gut ging, denn sie litt an Koliken – wenn sie nicht lächelte, sondern mit zusammengepresstem Mund aus dem kleinen Fenster gegenüber meines Bettes starrte, dann sah ich allzu deutlich ihren Sohn aus ihrem Gesicht schauen, und ich schämte mich böser Gedanken. War es ein Unrecht, sie zu benutzen, um mich an ihm zu rächen? Sie hätte mir dienlich sein können, und das wollte sie doch! War ihr Entschluss zu Wiedergutmachung mir gegenüber stärker als ihre Mutterliebe? Und immerhin: Sie hatte dieses Scheusal hervorgebracht, mangelhaft erzogen und schließlich auf die Welt losgelassen. Traf nicht auch sie ein Teil Schuld an allem, was er verbrochen hatte?
    Über solche Fragen sann ich oft und ausgedehnt nach. Was war die geeignete Strafe für ein Verbrechen wie es Honkes mir a ngetan hatte? Ihm seinen rechten Arm nehmen – Auge um Auge, Arm um Arm? Empfahl es sich nicht gar, ihn umzubringen, denn ob Rache oder gerechte Strafe, einer wie er würde nicht Ruhe geben bis zur Gegenrache oder Gegenstrafe. Ich war nicht mehr der Mensch, der nicht mal ein Insekt hätte töten können.
    Zuerst musste ich wieder heimkommen. Zwischen mir und der He imat lagen die infernalische Entfernung von über 4.000 Kilometern und mehrere Grenzen, die es ohne Pass zu überwinden galt und an denen wohl jedem Mann in Uniform mein Steckbrief vorlag. Natürlich hätte der Pastor mit seinem „Elselchen“ mich fahren, mich irgendwo zwischen zwei Grenzkontrollstellen absetzen und durch den Wald über die Grüne Grenze bringen können, und wohl hätte er es auch getan, aber ich hatte ihn genug hineingezogen, der Rest der Flucht war meine Sache.
    Eine Zeitlang erwog ich allen Ernstes, mir zur Ta rnung einen künstlichen Arm zu basteln und mich, durch den dunklen Bart verändert, der mir hier gewachsen war, zu Fuß nach Hause durchzuschlagen, ganz auf eigene Faust. Zwischendurch hielt ich es auch für machbar, eine kleine Privatmaschine zu chartern, zu Hause würde ich den Piloten fürstlich entlohnen, dort hatte ich Geld genug. Eine Privatmaschine in diesem bitterarmen Land, ein Flug über mehrere Grenzen und damit

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