Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte
Lina hielt mich am linken Arm fest und wollte mich wieder zurückzerren. Justus Näb stutzte sie mit einem russischen Wortschwall zurecht. Sie ließ mich los und fing an zu weinen. Ich umarmte sie kurz und verließ dann mit dem Pastor das Haus durch die Hintertür.
Durch Gärten und ein kleines Wäldchen erreichten wir in einem B ogen um die Hauptstraße den Hintereingang der Kirche. In meinem fieberheißen Körper machte sich ein Gefühl von Aufbruch bemerkbar. Noch ein paar Tage, dann würde ich wieder zu Hause sein. Dass wir mein Lager eigentlich wegen des Fremden verlegten und nicht wegen der bevorstehenden Rückreise, wollte ich nicht wahrhaben. Das war ein Gast, nichts weiter; der Pastor war einfach zu misstrauisch.
„Bei mir im Haus ist es zu gefährlich, wenn der Kerl wirklich ein Sp ion ist. Die Kirche ist zwar kalt, dafür glaube ich aber nicht, dass er dich hier sucht.“
Er führte mich in einen Nebenraum der Kirche, der vollg estellt war mit verschrammten, abgewetzten, durchgesessenen Holzbänken. Zwei davon waren zu einem Bett zusammengefügt, darauf lagen ein paar Decken und ein Kissen.
„Ich habe dir ein notdürftiges Lager gemacht. Wir heben hier die alten Kirchenbänke auf für Verwe ndung, die uns vielleicht noch einfällt oder andere Gemeinde, die schlechter dran ist als wir. Neue Bänke sind von deiner Spende eingebaut worden, herzlichsten Dank noch mal.“
Er ließ mich allein, und ich kroch angezogen unter die De cken. Ich kam mir vor wie auf dem Flughafen: Unbequem lag man und wartete, konnte nicht schlafen, aber freute sich auf den Start. Ich musste dann doch eingeschlafen sein.
Es weckte mich Motorenlärm. Ich war steif und glühte innerlich. Als ich von den Bänken kroch, wurde mir schwindlig. Wie ein Hundertjähriger tappte ich im Dunklen zur Tür des fensterlosen Abstellraumes, ging hinaus in die Kirche und tastete mich an den Wänden entlang zum Ausgang. Ich öffnete das Portal einen Spalt, lugte hinaus in die Morgensonne und kämpfte gegen die Schwäche in mir.
Durch den Türspalt konnte ich das Heck eines Sattelschleppers s ehen und das Kennzeichen der Hansestadt Bremen. Ich sah einen ovalen weißen Aufkleber mit einem großen schwarzen D. Nach so vielen Wochen der Verlorenheit tief in einem fremden Land war dieser Anblick wie ein Versprechen auf Heimkehr für mich, und schmerzliche Freude durchströmte mich.
Ich hörte leise Stimmen, erkannte den Singsang des Pastors und wollte schon das Kirchenportal ganz aufdrücken und mich hinzug esellen zu meinen Rettern, da sah ich aus den Augenwinkeln einen kleinen runden Mann in einem mausgrauen Anzug aus einem der Häuser des Dorfes treten und zielstrebig auf die Kirche zukommen. Sofort zog ich die Kirchentür zu mir heran. Mein Herz rotierte in meinem entzündeten Brustkorb. Der Fremde, der sich im Dorf einquartiert hatte – es war niemand anders als die kleine Billardkugel, der miese, angeblich taubstumme Anwalt, der dazu beigetragen hatte, mich einzukerkern.
Ich suchte nach einem Fenster, nach einer Luke, einer Ritze, nach einer Hintertür – irgendeinem Zugang für Auge oder Ohr zu der Szene, die sich jenseits des Kirchenportals am Führerhaus des Sattelschleppers gerade abspielte. Billardkugel war zielstr ebig auf den Ort zugestampft, an dem ich die Stimmen gehört hatte. Offenbar war der Konvoi gerade eingetroffen, und es gab keinen Zweifel, dass er mit den Leuten Kontakt aufgenommen hatte. Ich musste mit allem rechnen – auch damit, dass er den Pastor dazu brachte, mich zu verraten.
Nun hatte ich zu bereuen, dass ich nie über das mit Justus Näb g esprochen hatte, was mir im Detail widerfahren war. Er hatte während meines Deliriums so manches aufgeschnappt, sich eine Geschichte zusammengereimt, und als er mir gegenüber mit einigen Brocken dieser Geschichte aufwartete und Peter Honkes darin als mein Hauptgegenspieler auftauchte, setzte ich ganz selbstverständlich voraus, dass ihm die ganze Wahrheit vorlag. Erst jetzt begriff ich, wie ausgeschlossen das war. Der Pastor hatte meinen elenden Zustand gesehen und gehört, dass ich als geflüchteter Vergewaltiger gesucht wurde. Nur weil ich mich als Opfer von Honkes eingeführt und so viel Geld für seine Kirche gespendet hatte, ging er davon aus, dass ich der Gute in dem Spiel war. Vielleicht aber unterbreitete ihm Billardkugel in diesem Augenblick eine Geschichte, die ihn meine Rolle ganz anders sehen ließ. Ich konnte nicht hier herumsitzen und warten, was als
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