Der Mann, der nicht geboren wurde

Signal ertönt – ich
glaube, einer klatscht in die Hände oder schlägt einen Gong oder so. Der Fremde
läuft zu seinem ersten Pfeil und hat ihn schon abgeschossen, da hat der Soldat
den seinen noch gar nicht richtig in der Hand! Und der Pfeil trifft den
Soldaten genau in die Handfläche, genau die Hand, die er gerade nach seinem im
Boden steckenden Pfeil ausstreckte. Wahnsinn! Der Soldat streckt die andere
Hand aus, da schlägt ihm der zweite Pfeil des Fremden durch die zweite
Handfläche. Erst jetzt wird allen Zuschauern – unter ihnen meine beiden
Geschäftsfreunde, die wie ich in Übergroßenwäsche machen – klar, dass der erste
Treffer kein Glückstreffer war, sondern die voll-kom-me-ne Ü-ber-le-gen-heit.
Der Soldat steht da wie der totale Verlierer, mit seinen zwei durchschossenen
Händen – da erlöst ihn der Fremde. Zack! Der dritte Pfeil. Voll durch den Hals!
Er hätte ihn auch schon mit dem ersten Pfeil töten können, aber er wollte ihn vorführen,
ihm eine Lehrstunde erteilen, ihn demütigen. Na, den Soldatenfreunden vom
Erschossenen hat das natürlich gar nicht geschmeckt. Ein Duell ist ein Duell,
aber eine Hinrichtung ist eine Hinrichtung. Und wisst ihr, was dann passiert
ist? Zwei von denen, die sich den Fremden greifen wollen, werden von ihm auch
noch erschossen, mit den Pfeilen vier und fünf. Drei Tote! Dann sind die
übrigen Soldaten endlich an dem Irren dran und prügeln ihn halb tot. Weil er
keine weiteren Pfeile mehr hatte. Hätte er mehr als fünf Pfeile haben dürfen
bei diesem Duell, hätte es mehr als drei tote Soldaten gegeben an diesem Tag in
Endailon.«
    Â»Was ist dann passiert?«
    Â»Genau weiß ich das nicht. Er kam wohl in den Kerker, der Fremde.
Aber die Rechtslage ist ein wenig verzwickt. Der erste Tote war kein Mord,
sondern ein freiwilliges Duell. Die Toten zwei und drei können als Notwehr
ausgelegt werden, als Selbstverteidigung. Andererseits kann Endailon nicht
dulden, dass einer hingeht und Soldaten abmurkst wie nichts. Die werden ihn,
wenn sie ihn nicht hinrichten, im tiefsten ihrer Kerker verrotten lassen.«
    Rodraeg lief ein Schauer wie kaltes Wasser über den Rücken. »Dieser
Fremde – hatte er weiße Haare?«
    Â»Aber überhaupt nicht. Er hatte eine Glatze!«
    Rodraeg und Cajin wechselten einen Blick. »Das passt«, sagte Rodraeg
dann leise. »Seine Haare fingen seit der Höhle an, braun nachzuwachsen. Deshalb
hat er sie sich abrasiert.« Laut fragte er die Händlerin: »Hatte er eine
Zahnlücke? Fehlte ihm hier vorne ein Schneidezahn?«
    Â»Keine Ahnung. Damit man das hätte sehen können, hätte er ja
irgendetwas sagen müssen oder lächeln oder so was, aber das hat er nicht getan.
Meine Geschäftsfreunde haben jedenfalls nichts von seinen Zähnen erzählt.
Glatze und schmutzige Kleidung, wie von einem, der viel im Freien schläft. Der
Bogen war sein eigener, kein Armeebogen. Aber ein guter Bogen, möchte man
meinen.«
    Â»Dankeschön. Ihr habt uns sehr geholfen. Hier, für einen dritten
Schnaps wird’s noch reichen.« Rodraeg hatte es plötzlich eilig, aus der Alten Kutsche auszusteigen. Das Gedränge hier drinnen
machte ihm zu schaffen.
    Â»Wo willst du hin?« Cajin hatte den Rest der Zeche bezahlt und
rannte nun hinter Rodraeg her, um ihn auf der Straße einzuholen.
    Â»Wir müssen hin und ihn da rausholen. Endailon ist nur sechs Tage
von hier entfernt, wenn man mit jemandem mitfährt, sind es nur drei, wir sind
also auf jeden Fall wieder zurück, bevor Naenns Kind kommt, aber wir dürfen
keine Zeit verlieren, denn sie werden ihn hinrichten, wenn sie erst mal
begriffen haben, dass er ohnehin schon gesucht wird, weil er desertiert ist.«
    Â»Aber Rodraeg! Rodraeg! Rodraeg! Er sitzt in einem königlichen
Garnisonsgefängnis! Was willst du denn da ausrichten? Willst du einen Ausbruch
organisieren und die gesamte königliche Armee des Kontinents gegen dich
aufbringen?«
    Â»Ich weiß es nicht. Vielleicht kann man rechtliche Mittel bemühen.
Einen Advokaten finden. Ich kenne mich ein wenig mit so etwas aus, ich war in
der Hauptstadt bei einem Advokaten in der Lehre. Baladesar könnte uns ebenfalls
helfen, von Aldava aus.«
    Â»Aber was willst du in diesem Fall rechtlich erwirken? Hellas – wenn
er es denn überhaupt ist, denn wenn er es nicht ist, fährst du ganz