Der Mann, der nicht geboren wurde
heraus, wenn der Gegner aus seiner
Deckung tritt.« Der Schmetterlingsmann sprach ruhig und bedächtig.
Rodraeg war nicht ganz so ruhig. »Und gibt es irgendeine Möglichkeit
für uns, den Gegner dazu zu zwingen, zu unseren Bedingungen
aus seiner Deckung zu treten? Ich möchte ungern abwarten, bis der Erste von uns
umgebracht wurde.«
»So einfach wird das nicht sein«, sagte Estéron und legte seine
warme, faltige Hand auf Rodraegs Handrücken. »Wir sind vier. Bald fünf. Wenn
eure beiden Thostreisenden wieder zurückkehren, werden wir zu siebt sein.
Mächtige Strömungen werden flieÃen in diesem Haus. Durch das Kind. Durch die
Mutter. Durch das Schwert aus Erz und den hölzernen Kopf auf deinem
Schreibtisch, Rodraeg. Selbst der Quellenkiesel, den du in einer Schublade
bewahrst, besitzt eine starke und ungewöhnliche Energie. Wasser. Stein. Holz.
Erz. Fleisch und Blut. Das Mammut ist schon jetzt
weit mehr als nur ein Tier von dieser Welt.«
»Es war von Anfang an ⦠ein Traum«, sagte Rodraeg leise und sah
Naenn an. Als sie wegschaute, blickte auch er woandershin. Ins Licht, und dann
ins Dunkel.
In der Nacht, in seiner
winzigen, fensterlosen Kammer, arbeitete Rodraeg sich durch den nach Beeterde
riechenden Eljazokad-Naenn-Zepterbericht. Er war erstaunt und erschrocken
zugleich darüber, wie wenig er von den Geschehnissen in der Höhle bewusst
mitbekommen hatte. Den gröÃten Teil der Treppenersteigung war er ohne Besinnung
gewesen. Desgleichen im kreisenden Wasser. An den Kampf gegen die Doppelgänger
erinnerte er sich nur noch dunkel, wie durch ein ruÃgeschwärztes Glas. Dafür
waren ihm von der Rückreise mit der Ritterin und ihrer Bande noch viel mehr
Kleinigkeiten im Gedächtnis geblieben als Eljazokad, der sich die meiste Zeit
am Zepter festgeklammert hatte wie ein Fischer auf stürmischer See an seinen
Mast. »Idealerweise sollte so ein Bericht von mehreren verfasst werden«, dachte
sich Rodraeg. »Der eine hat dies nicht so ganz mitbekommen, der andere das.
Wenn man wirklich so etwas wie die Wahrheit vermitteln will, muss man mehrere
Sichtweisen berücksichtigen.«
Dass Hellas auf Rodraeg geschossen
hatte, erschien im Bericht als vollkommen unerklärliches Rätsel. Als
plötzlicher Wahnsinn. Wie Tollwut.
Doch das war es nicht.
Am nächsten Tag verbuddelte
Rodraeg den Bericht wieder im Garten. Erst hatte er ihn zu Baladesar Divon nach
Aldava schicken wollen, aber dann war ihm eingefallen, dass Bestar auf der
gesamten Rückreise von der Höhle des Alten Königs bis zum Wildbart nicht dabei gewesen war und dass es
sicherlich praktisch wäre, dem Klippenwälder den offiziellen Missionsbericht
einmal vorlesen zu können. Also wollte Rodraeg den Bericht noch behalten, bis
Bestar eintraf.
Bei einer sich bietenden Gelegenheit
nahm Rodraeg noch Naenn beiseite und führte sie in Hellasâ Zimmer. Es war genau
so eine winzige, lichtlose Kammer, wie auch Rodraeg eine bewohnte.
»Ich wusste, dass er unter Angst vor engen Räumen litt. In der Höhle
in Terrek wurde das schon klar. Auf unserer Kutschenfahrt nach Wandry fuhr er
meistens auf dem Kutschbock mit, weil er es drinnen nicht aushielt, trotz
Fenstern und Türen. Immer wieder habe ich ihn in Höhlen geschleift. Ihn unter Berge
gezwungen. Und wohnen lieà ich ihn hier: in einem Sarg aus Wohnstubenholz. Ich
glaube, selten zuvor ist ein Mensch so systematisch von jemandem gepeinigt
worden wie Hellas von mir.«
»Du hast das doch nicht böse gemeint!«
»Natürlich nicht. Aber ich war gedankenlos. Achtlos. Das mag noch
verwerflicher sein als Bosheit.«
»Du gibst dir selbst die Schuld, dass er auf dich geschossen hat?«
Rodraeg gab zuerst keine Antwort. Dann flüsterte er: »Ich will ihn
wiederfinden.«
Schon am selben Nachmittag
verlieà Rodraeg zum ersten Mal seit Wochen wieder das Haus. Cajin begleitete
ihn, während Estéron auf Naenn aufpasste. Niemand von ihnen sollte in dieser
Zeit alleine bleiben.
Ziel von Rodraeg und Cajin war das
Gasthaus Alte Kutsche . Cajins Idee, dass man dort am ehesten Neuigkeiten aus Endailon
erfahren könnte, hatte Rodraeg eingeleuchtet, und er hatte darauf gedrängt,
selbst mit hingehen zu dürfen.
Warchaim hatte schon wieder seine Farben geändert. Der Sommer war
heiÃ, aber auch verhältnismäÃig kurz gewesen. Früh hatten herbstliche Winde das
Feuer in
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