Der Mann, der nicht geboren wurde
Delbane lag nicht oben im Bett und
schlief, sondern war vergangene Nacht beim fehlgeschlagenen Versuch, den
Stadtgardekommandanten Gauden Endreasis zu ermorden, festgenommen und in eine
Gefängniszelle verbracht worden. Als Tatwaffe hatte der Verhaftete eine lange
schwarze Nadel benutzt, dieselbe Art von Waffe also, mit der auch die Morde an
Vinzev Traló, Uklas Eimenhard und der Ãbtissin Baacla verübt worden waren.
Cajin, der diese Botschaft
entgegennahm, geriet vollkommen in Panik. »Das KANN er nicht getan
haben!«, schrie er immer wieder, nachdem die Gardistin schon längst gegangen
war und alle Mammut mitglieder am Tisch zusammensaÃen, um zu beraten. »Das KANN er NICHT getan haben! Das KANN ER NICHT GETAN
haben!«
»Und doch ergibt alles einen Sinn«, sagte Estéron. »Ich frage mich
nur, weshalb der Einbrecher so viele Tage verstreichen lieÃ, bis er diesen
makellos wirksamen Zauber in die Tat umsetzte. Vielleicht braucht der Zauber
Zeit. Oder ⦠der eigentliche Zauberer ist ein paar Tagesreisen entfernt.«
»Wir müssen Rodraeg besuchen«, stellte Naenn fest.
»Sie werden ihn doch wieder freilassen, oder?«, fragte Bestar bange.
»Ich meine, der Stadtgardehauptmann lebt doch wohl noch. Rodraeg hat niemandem
was angetan!«
»Die Frage ist«, fasste Estéron zusammen, »wie froh die Garde über
dieses Schuldeingeständnis ist. Offensichtlich ist Rodraeg auf frischer Tat
ertappt worden. Wenn alle Ermittlungen der Garde bislang ins Leere liefen, kann
es sein, dass sie sagt: Gut, wir haben immerhin einen Trottel mit einer Nadel
in der Hand geschnappt. Was interessiert es uns, dass diese FuÃspuren weiblich
waren oder dass Rodraeg Delbane zur Tatzeit der Morde in seinem Haus gesehen
wurde? Er hat eben Tricks angewandt. Oder Magie. Oder das Mammut besteht aus viel mehr Leuten, als wir ahnen. Lasst uns den Deckel auf
die ganze unerfreuliche Geschichte draufmachen und Rodraeg Delbane mitsamt all
seinen Sünden säuberlich zu Asche verbrennen, damit wieder Ruhe einkehrt in
unserer schönen, beschaulichen Stadt.«
»Das würden Menschen tun?«, fragte Naenn.
»Menschen haben dergleichen schon oft getan«, antwortete Estéron
düster.
»Dann müssen wir ihn eben befreien! Wir hauen ihn da raus!« Bestar
schlug mit der Faust auf die Tischplatte, um seine Worte zu unterstreichen.
MäÃigend hob Estéron beide Hände. »Zuerst einmal sollten wir uns
anhören, was Rodraeg selbst zu der ganzen Angelegenheit zu sagen hat.
Vorausgesetzt natürlich, sie lassen uns überhaupt mit ihm sprechen.«
Sie gingen alle gemeinsam. Es
hatte einen kleinen Streit gegeben über die Frage, wer zu Hause bleiben musste,
um auf Naenn und das Kind aufzupassen. Cajin hatte dagegen protestiert, immer
im Haus hocken bleiben zu müssen »wie ein Besen oder sonst ein Gerät, das immer
nützlich ist, aber immer in die Ecke gestellt wird«. Naenn jedoch wollte gar
nicht mehr, dass man auf sie aufpasste. Sie wickelte ihr Neugeborenes
winterwarm ein und ging voran zum Stadtgardehaus.
Die Hauptfrau Larza Durbas entschied,
dass das versammelte Mammut mit dem Festgenommenen sprechen durfte, aber nicht ohne
Ãberwachung. Die Hauptfrau selbst wollte zugegen sein und mithören dürfen.
Darüber hinaus wollte sie noch den Ermittler Dilljen Kohn hinzuziehen. Sie
erhoffte sich Aufschlüsse von einer solchen Sitzung, und Estéron bescheinigte
ihr, dass diese Idee tatsächlich gar nicht schlecht war und auch im Sinne des Mammuts , da das Mammut nichts zu verbergen
hatte.
Rodraeg â der erstaunlich gut geschlafen hatte und das darauf
zurückführte, dass er nun an jeglicher Bewegung gehindert wurde und sich nicht
mehr andauernd vorwerfen musste, zu wenig zu unternehmen â bekam ein an ein Nachtgewand
erinnerndes Kerkerhemd ausgehändigt, durfte das anziehen und wurde dann in eine
Kammer mit mehreren Tischen und Bänken geführt. Dort fesselte man ihn wie einen
Schwerverbrecher vorsorglich an einen festgeschraubten Stuhl. Dann kamen
nacheinander Hauptfrau Durbas, Naenn mit Nemialé, Cajin, der Estéron führte,
Bestar â der zähneknirschend Skergatlu hatte abgeben müssen â und Dilljen Kohn
dazu. Der Raum brodelte plötzlich vor verhaltener Spannung.
Rodraeg, der in seinem farblosen, knielangen Hemd wie ein
Almosenbettler aussah, erzählte, wie er die vergangene Nacht
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