Der Mann der nicht zu hängen war
Nationalhymne. Endlich ist auch Funkstille im Kopf des völlig verwirrten Monsieur Bouvreuil. Seine Frau traut sich kaum in seine Nähe. Ist sie denn auf einmal mit einem überirdischen Wesen verheiratet? Erschöpft schlafen die beiden dann doch ein. Aber schon um 6 Uhr 50 springt Monsieur Bouvreuil wie von der Tarantel gestochen aus dem Bett. In seinem Kopf befiehlt eine resolute Stimme: »Bei-ne strecken! Knie zu-sam-men! Hän-de flach auf den Boden... 2 — 3 und — 4! Und wieder aufrichten... Tief Ein-at-men! Und noch einmal: Beine...«
Die nächsten Tage sind die reinste Tortur für Monsieur Bouvreuil. Ganz egal, wo er gerade ist — zu Hause, auf der Straße, im Büro: Er hört von 6 Uhr 30 bis 2 Uhr morgens das gesamte Rundfunkprogramm in seinem Kopf. Ja, innendrin! Außer, wenn er den Mund ganz weit aufmacht. Aber was hilft es schon, schließlich kann er nicht dauernd gähnen. Selbstverständlich konsultiert er bald einen Arzt, und ebenso selbstverständlich hat dieser keinerlei Erklärung parat. Und auch der Neuro-Psychiater ist rasch mit seinem Latein am Ende. Aber da er es nicht so ohne weiteres zugeben will, nimmt er pro forma die Sache ernst und stellt die erste logische Frage: »Welchen Sender hören Sie denn?«
Léon Bouvreuil hat die größten Schwierigkeiten, ein normales Gespräch mit dem Nervenspezialisten zu führen, denn er muß ja gleichzeitig ein spannendes Hörspiel verfolgen. Und so murmelt er ziemlich abwesend: »Meistens bin ich am >Poste Parisien< angeschlossen. Aber es kommt darauf an, wo ich gerade bin.«
»Lieber Monsieur Bouvreuil, das sollten Sie mir schon näher erklären.«
»Na ja, wenn ich zum Beispiel am Palais de Chaillot vorbeigehe, dann höre ich Kultursendungen. Aber nicht lange. Gleich wenn ich um die Ecke biege, in die Straße Paul Doumer, ist es vorbei. Gott sei Dank! Nichts gegen Kulturelles, aber wissen Sie, es strengt mich viel mehr an.«
Der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie kann nur noch hilflos den Kopf schütteln: Dieser Mann hier ist auf alle Fälle kein Simulant! Das scheint ihm absolut sicher.
Er ist auch nicht verrückt, aber seine Lage ist zum verrückt werden. Und sie wird immer ernster. Monsieur Bouvreuil ist bald nicht mehr fähig zu arbeiten. Er ißt kaum noch, und an Schlaf ist kaum zu denken. Denn sogar nachts wird er manchmal — durch Telegramme geweckt, die im Morsealphabet über Funk durchgegeben werden: Es ist die Hölle auf Erden!
Der x-te Spezialist, den er besucht, erklärt ihm in unverständlichem Fachjargon sinngemäß, daß die elektrischen Wellen, die von seinem Gehirn emittiert werden, stark genug sind, Rundfunkwellen, die wiederum vom Sender emittiert werden, zu empfangen. So ein Unsinn!
»Können Sie dann nicht wenigstens einen Schalter einbauen? Wenn ich den Mund weit aufmache, da hört es doch auf. Wäre es also nicht möglich, vielleicht die Pole auszutauschen? Ich verstehe ja nichts davon. Aber tun Sie endlich etwas, irgend etwas!«
Erst drei Monate später wurde das Rätsel gelöst — von einem Elektroingenieur: »Haben Sie falsche Zähne? Wenigsten zwei?«
»Ja.«
»Aus Metall?«
»Ja, beide sind aus Gold, einer oben und einer unten — direkt übereinander.«
»Alles klar! Da haben wir’s!« Und der Elektroingenieur erklärt: »Wenn sich zwei Teile aus dem gleichen Metall oder aus verschiedenen Metallen sehr nah aneinander befinden und ein Teil davon ist oxydiert, dann kann das eine Art >Batterie-Effekt< hervorrufen, das heißt, es kann zur Ausbildung eines schwachen elektromagnetischen Feldes kommen, verstehen Sie?«
Nein. Léon Bouvreuil versteht nicht. Aber es ist ihm auch ganz egal. Er hatte zwei Goldzähne, und einer war unter der Krone plombiert. Bei geschlossenem Mund bildeten sie sozusagen einen schwachen Dipol, eine »Mini-Antenne«, und die war stark genug, das Radioprogramm zu empfangen. Denn Monsieur Bouvreuil wohnte und arbeitete ganz in der Nähe des Eiffelturms. Und hier befindet sich nun mal der stärkste französische Sender! Gewiß, es mußten viele Umstände zusammenkommen, ein derartiges Phänomen zustande zu bringen. Aber, so unglaublich es auch klingen mag, Monsieur Bouvreuil hat es erleben müssen — drei Monate lang —, bis sein Zahnarzt kopfschüttelnd die Goldzähne durch Porzellankronen ersetzte.
Der Mann, der morgen tot war
D ie Geschichte spielt am 18. August 1945. Wie viele tausend Soldaten, hat Sir James Primrose soeben seinen Demobilisierungsbescheid bekommen. Es ist
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