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Der Mann der nicht zu hängen war

Der Mann der nicht zu hängen war

Titel: Der Mann der nicht zu hängen war Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Bellemare
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Aber klingt die wahre Geschichte nicht auch wie eine Legende — die Legende vom kleinen Klavierbauer und »seinem« Flügel in der Wüste?
     

Das Leben an der Leitung
     
    J eanne ist 24 Jahre alt — sie ist allein, und sie ist am Ende. Es hat nichts mit Geld zu tun, nichts mit der Liebe, auch nichts mit ihrer Arbeit. Es ist eine Art — ja was ist es eigentlich? Eine Art von Aversion, von Ekel vor allem und jedem, vor der Welt und vor sich selbst.
    Joanne hat genug Geld zum Leben — mehr nicht, aber es genügt. Ihr Herz ist frei — zumindest frei genug, um seinetwegen nicht leiden zu müssen. Ihre Arbeit zwar monoton, aber nicht anstrengend. Mit einem Wort: Es läuft alles, wenn nicht gut, so doch auch nicht schlecht, eigentlich ganz normal. Nun, ein kleines, seelisches Tief vielleicht...? Aber es dauert jetzt schon ziemlich lange, dieses »kleine seelische Tief« — mehrere Monate! Und nach und nach, ganz heimtückisch, hat sich eine immer tiefere Depression in Jeannes Leben ausgebreitet.
    Und heute Nacht — es ist Mitternacht in Paris — hat diese schleichende Gemütskrankheit wohl gesiegt. Jeanne ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Unruhig irrt sie in ihrer kleinen Wohnung hin und her, bis in ihr auf einmal der Gedanke an den Tod auftaucht, der Tod als die einzige Lösung erscheint.
    Und Jeanne — 24 Jahre alt — bereitet alles vor, die große Dummheit zu begehen: Sie stellt ein Glas Wasser auf den Tisch, daneben Tabletten. Ganz ruhig, sehr gefaßt, schluckt sie eine nach der anderen. Es sind nur fünf Stück. Jeanne weiß sehr wohl, daß diese Dosis nicht ausreicht zum Sterben. Aber vielleicht geben ihr die Tabletten den Mut, der ihr noch fehlt, um ihr Leben kurz und bündig zu beenden. Jetzt liegt sie auf ihrem Bett. Und tatsächlich, nach ein paar Minuten bereits, verspürt sie die Wirkung der Tabletten — diese todbringende Beruhigung. Wie in Trance nimmt sie die bereitgelegte Rasierklinge und schneidet sich die Pulsader des linken Handgelenks auf. Ganz ruhig, als ginge sie das alles nichts an.
    Zehn Minuten nach Mitternacht. Ihr schwarzes Telefon auf dem Nachttisch ist die einzige Verbindung mit der Außenwelt. Doch Jeanne weiß genau, daß es nicht klingeln wird. Niemand kennt ihre Adresse. Vor kurzem erst hat sie die Wohnung gewechselt. Sie hatte wahrscheinlich gehofft, dadurch in eine neue Haut zu schlüpfen. Es hat nicht funktioniert.
    Jeanne fühlt sich jetzt schon ziemlich schwach. Es ist eine irgendwie wohltuende Schwäche, und zum ersten Mal seit Monaten hat sie plötzlich das Bedürfnis, mit jemandem zu sprechen.
    Fünfzehn Minuten nach Mitternacht. Sie schaut auf den stummen, schwarzen Apparat. >Wen könnte ich jetzt schon anrufen? Um diese Zeit?< Jeanne will nicht gerettet werden. Es täte ihr nur einfach gut, jetzt einem Menschen sagen zu können: »Hör zu, ich werde bald sterben, und ich möchte dir nur erklären, warum. Unternimm nichts, hör mir nur zu!«
    Doch in Paris schlafen alle, und außerdem würde man sie sicher nicht in Ruhe sterben lassen, wenn sie jemanden anriefe, der in der Nähe wohnt. Also blättert Jeanne mit ihrer rechten Hand in ihrem Adreßbuch und sucht eine Nummer — am anderen Ende der Welt. Die Nummer von Claude, einem Freund, den sie seit fünf Jahren nicht mehr gesehen hat. Er lebt in New York. Und in New York ist es erst zwanzig Minuten nach sechs. Claude arbeitet noch. In Paris ist es Nacht, und Jeanne wird bald sterben.
    Sie hebt den Hörer auf, wählt die Vorwahlnummer für Auslandsgespräche, hört das Knistern in der Leitung und wartet auf den Freiton. Ganz ruhig, ganz gefaßt. Dann wählt sie weiter, unendlich viele Ziffern, bis es endlich in New York klingelt. Und sie fragt einfach nach »Claude?« Dreimal hintereinander fragt sie nach Claude, obwohl er selbst — allerdings mit einem amerikanischen »Hello« — am Apparat war. Nur — Jeanne hat ihn nicht sofort erkannt. Und jetzt findet sie das direkt komisch, ja fast lustig! Ihr wird bewußt, wie weit dieser 57. Stock eines gläsernen New Yorker Wolkenkratzers von Paris entfernt ist! Auch wenn sie nun die Stimme von Claude ganz klar und deutlich hören kann.
    Er ist sehr erstaunt über ihren Anruf. Will schon die üblichen Floskeln von sich geben: »Na Kleine, wie geht’s dir denn? Lange nichts von dir gehört. Was treibst du denn so?«
    Aber er kommt gar nicht dazu. Jeanne hat lediglich ihren Namen genannt — mit einer eigenartig verschlafenen Stimme. Sie läßt ihn gar nicht zu Wort

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