Der Mann der nicht zu hängen war
Carole entschieden hätte, wenn ihre zwei Verlobten nicht die Wahrheit über ihr Spiel erfahren hätten. Daß sie es erfahren haben, war wirklich reiner Zulall. Auch wenn die Betroffenen vielleicht heute noch fest davon überzeugt sind, daß nur der Teufel eine solche Geschichte inszenieren konnte.
Die alte Dame am Telefon
K openhagen, 13. November 1953. Es ist 2 Uhr 15, also mitten in der Nacht. Der Feuerwehrmann Christian Rasmussen hat Dienst und langweilt sich seit Stunden. Die Nächte sind lang in Kopenhagen um diese Zeit. Bereits gegen 17 Uhr geht die Sonne unter — und bis jetzt nicht ein einziger Einsatz. Na ja, Gott sei Dank. Rasmussen ist sehr jung, erst 22 Jahre alt, nicht sehr gebildet, jedoch bemerkenswert intelligent und voll Enthusiasmus für seinen Beruf. Im Augenblick spielt er Karten mit seinem Kollegen Oberfeuerwehrmann Carl Skager. Da läutet das Telefon!
Christian Rasmussen meldet sich: »Hauptfeuerwache Kopenhagen. Hallo... Hallo!«
Keine Antwort. Aber es ist jemand am anderen Ende der Leitung.
»Hallo! Feuerwehr! Melden Sie sich doch! Wer ist am Apparat?«
Der Kollege Skager brummelt nur. Wahrscheinlich wieder einer dieser blöden anonymen Anrufer, die sich einen Spaß daraus machen, die Feuerwehr auf den Arm zu nehmen. Doch Christian unterbricht ihn:
»Sei mal ruhig! Ich höre jemanden atmen. Hallo! Wer ist am Apparat? So melden Sie sich doch endlich! Sie blockieren die Leitung! Wenn’s ernst ist, sagen Sie irgend etwas, aber melden Sie sich!«
Da vernimmt er eine schwache Stimme, offenbar die Stimme einer alten Frau: »Ich bin gestürzt, helfen Sie mir.«
»Sie sind gestürzt? Wo denn? Sagen Sie mir erst einmal wo Sie sind.«
»Ich... weiß... es... nicht...«
»Sie wissen nicht, wo Sie sind? Das gibt’s doch nicht! Sind Sie zu Hause? Wo wohnen Sie denn?«
»Ich glaube, ja. Ich bin vielleicht, wahrscheinlich... bin ich... zu Hause...«
Der junge Rasmussen hat gerade seine Probezeit absolviert und ist noch nicht sehr erfahren. Aber er hat Instinkt. Er spürt sofort, daß es sich hier nicht um irgendeinen dummen Scherz handelt, und bittet seinen Kollegen, den zweiten Hörer aufzunehmen.
»Sie wissen nicht genau, ob sie zu Hause sind? Wo befinden Sie sich? In einer Wohnung?«
»Ja, es ist... eine Wohnung. Ich bin gefallen. Auf den Teppich..., und... ich kann mich nicht bewegen.«
»Wo ist die Wohnung? Geben Sie uns die Adresse durch. Wo wohnen Sie?«
»Ich..., ich weiß nicht. Ich kann es nicht sagen. Ich glaube, ich bin zu Hause, aber ich weiß die Adresse nicht mehr.«
»Na gut. Hören Sie genau zu, und bleiben Sie ganz ruhig. Sagen Sie uns nur, wie Sie heißen.«
»Ich weiß es... nicht. Ich kann mich an nichts erinnern. Ich weiß nur, daß ich nicht mehr aufstehen kann!«
»Das macht nichts! Aber hängen Sie nicht auf! Wir werden die Post bitten, Ihre Wohnung zu lokalisieren. Hallo! Hallo!«
Die alte Dame hat aufgehängt. Der junge Feuerwehrmann ist völlig ratlos. »Sie hat aufgehängt! Was machen wir jetzt?«
»Nichts!« meint der Kollege. »Da kann man nichts mehr machen. Wir können nur warten. Vielleicht ruft sie nochmal an. Aber glaub mir, es war bestimmt nur ein Scherz. Daran sind wir hier gewöhnt. Das wirst du noch oft genug erleben.«
»Nein, das glaubt' ich nicht! Das ist kein Scherz. Wir müssen sofort den Chef benachrichtigen.«
»Den Chef? Und was soll er dann unternehmen, deiner Meinung nach — ohne Namen, ohne Adresse? Komm. vergiß es, spielen wir weil er. Wenn es so ernst war, ruft sie wieder an, deine alte Dame.«
Und in der Tat, 52 Minuten später geht erneut das Telefon. »Hauptfeuerwache Kopenhagen. Hallo?«
Ein Seufzer, schweres Atmen in der Leitung, dieselbe alte, schwache Stimme wie vorhin: »Hallo, ich bin ohnmächtig geworden, ich wollte nicht aufhängen. Der ganze Teppich ist voll Blut. Ich bin verletzt. Ich habe Angst. Bitte, kommen Sie schnell, bitte!«
Dieses Mal bringt der junge Feuerwehrmann seinen Kollegen auf Trab: »Ruf die Postzentrale an! Schnell! Sie müssen feststellen, woher der Anruf kommt!«
Dann spricht er wieder mit der alten Dame: »Wo sind Sie verletzt?«
»Ich weiß... es... nicht. Ich weiß nur, daß ich viel Blut verliere. Ich sterbe bestimmt!«
Christian Rasmussen weiß nicht so recht, wie er reagieren soll. Er versucht, die alte Dame zu beruhigen:
»Aber nein! So schnell stirbt man nicht. Bleiben Sie ganz ruhig. Wir kümmern uns schon um Sie. Die Postzentrale sucht gerade Ihre Adresse. Sie erinnern
Weitere Kostenlose Bücher