Der Mann, der nichts vergessen konnte
anders gewesen. Sie hatte ganz neue Seiten an sich entdeckt und etwas, das eine Agentin im Außeneinsatz sich nicht leisten durfte: Skrupel. Und ein unterschwelliges Gefühl des Misstrauens, das sie an keinen echten Fakten festmachen konnte. Sie hatte versucht, den unter Karims Schreibtisch gefundenen USB-Stick zu entschlüsseln, war aber daran gescheitert. Justin Flock, der Colin-Farrell-Verschnitt mit dem Hang zu unkonventionellen T-Shirts, hätte das Speicherstäbchen vermutlich mit links geknackt, vielleicht wäre es sogar Squirrel gelungen, aber nach dem mysteriösen Tod ihres Freundes hatte sie niemandem mehr getraut.
Erst nach Karims Beerdigung war sie dem Ruf nach Fort Meade gefolgt. Dort hatte ihr Emil den Klartext der dritten Beale-Chiffre vorgelegt, ihr gesagt, sie solle daraus etwas machen, anschließend auf ihre Ausbildung in Yale verwiesen und ihr dann seinen Plan erklärt: Er wolle den Krieg im Cyberspace auf lange Zeit unterbinden, indem er den fähigsten Protagonisten eine Falle stellte.
Selbst der weitsichtige Owl konnte nicht ahnen, was Beales Vermächtnis in ihr ausgelöst hatte.
Sie war von ihm mit der Federführung der Operation Gambit betraut waren und berichtete seitdem ausschließlich an ihn.
Selbst in der NSA sollte der Plan geheim bleiben, denn Emil Kogan hatte schon damals mit einer undichten Stelle gerechnet. Dass ausgerechnet Azam, den er so viele Jahre lang mit »kleinen Jobs jenseits der Dienstvorschriften« betraut hatte, dieser Maulwurf sein könnte, war ihm wohl nicht in den Sinn gekommen.
Jamila hatte ihm einige Wochen später die Rohfassung ihrer Theorie präsentiert: Die Declaration of Independence sei ein entstelltes Textfragment oder gar eine komplette Fälschung. Er war beeindruckt gewesen. Psychologen der NSA hatten daraufhin unter Jamilas Leitung einen Plan erarbeitet, wie die Informationen häppchenweise an die Medien verfüttert werden konnten, so wie die ins Wasser geworfenen Fischstücke, mit denen man Haie köderte.
Inzwischen hatten die Räuber angebissen und trieben mit den Jägern ihr Spiel. Kein Wunder, dass Emil nervös war. Er hatte zwar behauptet, »Rückendeckung von ganz oben« zu haben, doch manchmal zweifelte sie daran. Vielleicht hatte er bei dieser Partie zu viel gewagt und drohte nun mehr als nur seine Pension zu verlieren. Zumindest schien er ihre Loyalität noch nicht in Frage zu stellen, sonst hätte er sie kaum mit Tims Liquidierung betraut. Absurderweise empfand sie, die Killerin in spe, ein schlechtes Gewissen bei dem, was sie hier tat.
Sie hatte sich in den NSA-Computer eingeloggt und rief eine Datenbank mit den biografischen Daten von Mitarbeitern auf.
Natürlich benutzte sie dafür nicht ihre persönliche Benutzerkennung, und auch ihr Mobiltelefon arbeitete mit einer fremden Identifikation – die Eule hatte ihr beigebracht, geräuschlos zu fliegen. Rasch, als wäre ihre Tat dadurch weniger verwerflich, tippte sie den Namen »Kogan, Emil W.« ein.
Die Vita ihres Vorgesetzten erschien auf dem Bildschirm.
Das meiste davon kannte sie bereits. Dem Datensatz zufolge war er 1945 im österreichischen Linz geboren. Doch zwischen seiner Kindheit und der Gegenwart klaffte eine riesige Lücke.
Die Eintragungen liber seinen Dienst bei der NSA reichten nur bis ins Jahr 1995 zurück. Als Jamila weiter in seine Vergangenheit vorstoßen wollte, quittierte der Computer das Ansinnen mit einer knappen Antwort:
CLASSIFIED
»Verdammter Mist!«, zischte sie. Ihre Geheimhaltungsstufe reichte nicht aus, um die Informationen einzusehen.
Die Freundlichkeit der Agenten, die sich beim »Beschützen« von Tim ablösten, war trügerisch. Sie erfüllten ihm nach Möglichkeit jeden Wunsch, aber sobald er auch nur andeutete, das Büro des Bibliothekars verlassen zu wollen, verwandelte sich ihre Dienstfertigkeit in kühle Zurückweisung. »Sorry, Dr. Labin, aber ich bin nicht befugt, Sie den Risiken außerhalb des Labors auszusetzen.« So oder ähnlich wälzten die Kerkermeister die Verantwortung auf den großen Unbekannten ab.
Auf Owl.
Der einzige Lichtblick war für ihn Jamila. Nicht, dass er seine Bedenken ihr gegenüber ganz begraben hätte, doch wider besseres Wissen wurden seine Gefühle für sie von Tag zu Tag stärker. Wenn er seine Zweifel auf die eine Seite der Waagschale legte und auf die andere ihren Duft, ihr Lächeln, den Klang ihrer Stimme, die kleinen Berührungen, den Gedankenaustausch mit ihr und die vielen anderen kleinen Momente der
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